Zivilcourage

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Zivilcourage ist eine spezielle Form mutigen Verhaltens, welches darauf abzielt ethische, humanistische oder prosoziale Normen und Werte zu verteidigen und welches trotz des Bewusstseins eines persönlichen Risikos ausgeübt wird. Wörtlich kann der Begriff als Bürgermut (zivil, lat. civilis = bürgerlich, anständig; franz. courage = Mut) übersetzt werden. Allerdings ist Mut nach heutigem Verständnis nur eine Komponente von Zivilcourage, da noch weitere Charakteristika entscheidend sind. [1]

Definition

Begriffsbestimmung

Der Begriff Zivilcourage bezeichnet einen bestimmten Typus sozialen Verhaltens, der nur unter bestimmten Begebenheiten auftritt. Ausgangspunkt von zivilcouragiertem Verhalten ist stets die Verletzung der Integrität einer Person oder die Missachtung von prosozialen Werten und Normen durch eine andere Person oder Gruppe.[2] Zivilcouragiertes Handeln bedeutet, sich dieser Verletzung entgegenzusetzten und (a) sich für die Wahrung von Werten oder legitimen, nicht materiellen Interessen einer Person (b) öffentlich einzusetzen.[3] Zivilcourage kann hierbei auch einen Bruch mit anderen Normen bedeuten,[4] welche den zu schützenden Normen in dem Fall untergeordnet werden. Kidder (2006) nennt als moralische Werte, die durch Zivilcourage (moral courage) geschützt werden die Folgenden: Ehrlichkeit, Verantwortung, Respekt, Fairness und Mitgefühl.[5] Durch die Verletzung dieser Werte entsteht ein (c) Konflikt zwischen dem, der zivilcouragiert handelt und demjenigen, der Werte verletzt. Zivilcouragiertes Verhalten kann dabei von der geschädigten Person selbst, aber auch von Dritten gezeigt werden. Als Voraussetzung für zivilcouragiertes Verhalten gelten ein gewisser Handlungsspielraum und Einflusschancen.[6] Dennoch besteht in der Regel ein reales oder wahrgenommenes (d) Machtungleichgewicht zwischen der zivilcouragierten und der Werte verletzenden Person.[7] Zivilcouragiertes Handeln beinhaltet daher das in Kauf nehmen eines unter Umständen dauerhaften, (e) persönlichen Risikos, das sowohl physisch als auch sozialer Natur sein kann.[8] Im organisationalen Kontext bedeutet zivilcouragiertes Handeln, Missstände im Unternehmens selbst oder im Umfeld des Betriebes aufzuzeigen, unter einem persönlichen Risiko, wie etwa Unbeliebtheit bei Kollegen und Vorgesetzten oder der Gefährdung der eigenen Position.[9]


Arten von zivilcouragiertem Verhalten

Zivilcourage kann auf unterschiedliche Art und Weise gezeigt werden. Generell lassen sich drei Arten zivilcouragierten Handelns unterscheiden: Eingreifen zugunsten anderer, Sich-Einsetzen und Sich-Wehren. Ersteres geschieht in der Regel spontan aus der Situation heraus. Das Einsetzen für allgemeine Werte und Rechte oder für legitime Interessen andere, passiert hingegen meistens wohlüberlegter. Diese Form von Zivilcourage ist in organisatorischen Kontexten und in Institutionen die typischste. Die dritte Form von zivilcouragiertem Verhalten ist die des persönlichen Widerstands. Hierzu zählt sich körperliche Gewalt oder Mobbing entgegenzusetzen, aber auch zu seinen Überzeugungen zu stehen und „aus guten Gründen“ den Gehorsam zu verweigern.[10]


Abgrenzung ähnlicher Begrifflichkeiten

Um den Begriff Zivilcourage und dessen Bedeutung klar zu definieren, ist eine Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Mut, Tapferkeit, Solidarität oder Altruismus notwendig. Zivilcourage tritt zwar meist gemeinsam mit diesen Phänomenen auf, ist jedoch keineswegs synonym mit ihnen zu verwenden. Irreführend sind hierbei besonders die Bezeichnungen „Bürgermut“ oder „Sozialer Mut“ für Zivilcourage, welche von Meyer (2012) synonym mit Zivilcourage verwendet wird. Denn Zivilcourage erfordert zwar mutiges Verhalten, aber auch andere Faktoren (siehe oben). So handelt nicht jeder, der Mut zeigt, auch gleichzeitig zivilcouragiert. Mut stellt daher lediglich einen Teil von zivilcouragiertem Handeln dar, Zivilcourage jedoch keinen von Mut.[11]

Darüber hinaus ist es notwendig Zivilcourage von anderen Formen prosozialen Verhaltens wie Hilfeleistung und Heldentum abzugrenzen. Denn während in früheren Studien zwischen manchen Arten prosozialen Verhaltens nicht unterschieden wurde, konzentriert sich die heutige Forschung auf die unterschiedlichen Situationen und Determinanten der verschiedenen Arten.[12]


Allgemein kann prosoziales Verhalten als Überbegriff für zwischenmenschliche Unterstützung verstanden werden.[13] Es umfasst somit sowohl zivilcouragiertes Verhalten, als auch Hilfeverhalten, Heldentum, soziale Kontrolle oder kooperatives Verhalten.[14] Hilfeverhalten (synonym mit Hilfeleistung) ist dabei jedoch klar von zivilcouragiertem Handeln zu unterscheiden. Wesentlich für die Unterscheidung sind die oben genannten Kriterien des Eingehens eines persönlichen Risikos, die Entstehung eines Konflikts, die Existenz eines realen oder wahrgenommenen Machtungleichgewichts und die Öffentlichkeit der Handlung. Diese vier Aspekte sind lediglich für Zivilcourage charakteristisch, nicht jedoch für Hilfeverhalten.[15] Hilfeleistungen gehen zudem nicht zwingend eine Verletzung von Normen oder Werten durch eine andere Person voraus.[16] Darüber hinaus wecken Situationen, die Zivilcourage erfordern, stärkere Empathie und Verantwortungsgefühle.[17] Einige Autoren definieren Zivilcourage in diesem Sinne als eine bestimmte Form von Hilfeverhalten,[18] andere hingegen fordern eine gänzliche Trennung der Begriffe.[19]


Neben Hilfeleistung ist auch Heldentum von Zivilcourage abzugrenzen. Beide sind ebenfalls Arten prosozialen Verhaltens. Nach Osswald et al. (2010) folgen sie jedoch unterschiedlichen moralischen Typen: Zivilcourage würde eher „Gerechtigkeit“ fordern, während Heldentum eher mit „Tapferkeit“ assoziiert sei. Zudem differenzieren Osswald et al. (2010) die beiden Begriffe, in dem sie argumentieren, Zivilcourage erfordere Handeln ohne Aussicht auf soziale Gewinne. Heldenhaftes Verhalten hingegen biete Aussicht auf Anerkennung und wäre insofern von ersterem zu unterscheiden.[20] Diese Definition von Heldentum ist jedoch konfliktär mit dem Begriff des stillen Helden, welcher jene zivilcouragierten Bürger bezeichnet, die während des Nationalsozialismus Verfolgte vor den Nazis versteckten. Da diese Stillen Helden ohne Aussicht auf Anerkennung, sondern unter extrem hohem persönlichem Risiko handelten, ist ihr Verhalten nach der Definition von Osswald et al. (2010) als zivilcouragiert und nicht heldenhaft zu bezeichnen. Der Begriff „stiller Held“ ist daher irreführend und zeigt, wie leicht die Begrifflichkeiten fälschlicher Weise synonym verwendet werden.

Empirie

Determinanten und ihre Wirkung

Prosoziales Verhalten im Allgemeinen wird durch verschiedenste Faktoren bestimmt, welche sich gemeinhin in personenbezogene und situationsbezogene Faktoren unterteilen lassen.[21] Die empirische Forschung hat dabei bereits eine Vielzahl an Determinanten prosozialen Verhaltens untersucht. Bisher existieren jedoch nur wenige Studien, die speziell zivilcouragiertes Verhalten und dessen Einflussfaktoren untersuchen. Grund hierfür ist u.a. das Definitionskriterium, der potentiellen negativen Konsequenzen für den Handelnden. Eine Simulation von Situationen, in denen Probanden sich für oder gegen zivilcouragiertes Verhalten entscheiden müssten, würde die Versuchspersonen hohem psychologischen Stress oder gar einer Gefahr aussetzen, was ein solches Experiment moralisch fragwürdig macht.[22] Studien, die bereits gezielt Determinanten von Zivilcourage untersucht haben nutzten daher in der Regel retrospektive Befragungen oder aber untersuchen lediglich die Bereitschaft zu handeln.


Meyer und Hermann (2000) nennen beispielsweise die Merkmale der Situation, den sozialen Status der Intervenierenden sowie den Grad der Verantwortungsübernahme der Eingreifenden als entscheidende Determinanten von zivilcouragiertem Verhalten. Die Verantwortungsübernahme wird dabei von der emotionalen Nähe des Eingreifenden zum Opfer bestimmt.[23] Osswald, Greitemeyer, Fischer and Frey (2006) fanden heraus, dass zudem die Salienz von Normen das Eingreifen in Zivilcourage Situationen fördert.[24] So zeigten Menschen mit zuvor aktivierten prosozialen Normen eher zivilcouragiertes Verhalten. Die Ergebnisse dieser Studie unterstützen die Theorie von Nunner-Winckler (2002). Diese geht davon aus, dass die formale Bereitschaft, Zivilcourage zu zeigen, von der moralischen Entwicklung eines Menschen abhängt und diese wiederum durch Bindungserfahrungen, elterliche Erziehungsstile, Konfliktlösungsverhalten und dem Einfluss der Peer Groups beeinflusst wird.[25] Weitere Studien ergaben, dass Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstwirksamkeit und soziale Kompetenzen,[26] Offenheit für neue Erfahrungen[27] sowie Selbstsicherheit[28] zivilcouragiertes Verhalten fördern. Der Einfluss von Selbstsicherheit ist dabei mediiert durch die veränderte Einschätzung der Situation und des persönlichen Risikos. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass auch Wut,[29] Empathie, eine geringere Dominanzorientierung und eine höhere Kontakthäufigkeit zu Ausländern[30] positiv wirken auf die Intention zivilcouragiert einzugreifen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Absicht des Eingreifens nicht zwangsläufig zu tatsächlichem Handeln in konkreten Situationen führt.[31]


Neben diesen Erkenntnissen aus den Studien speziell zu Zivilcourage, wird basierend auf Ergebnissen aus Forschungen zu ähnlichen prosozialen Verhaltensarten der Einfluss weiterer Faktoren angenommen. So vermuten Jonas & Brandstätter (2004), dass Determinanten von Hilfeleistung, wie etwa die Kosten für den Intervenierenden, die Attraktivität des Opfers sowie die Bewertung des Kontrollvermögens und der Verantwortlichkeit des Opfers für die Notsituation, auch einen Einfluss auf die Entscheidung für zivilcouragiertes Eingreifen haben könnten.[32]

Unterschiede zwischen Zivilcourage und Hilfeleistungssituationen bzgl. der Korrelation mit verschiedenen Einflussfaktoren[33]



Korrelationen von Zivilcourage- oder Hilfeleistungsintervention mit verschiedenen Einflussfaktoren [4] + Signifikant positive Korrelation - Signifikant negative Korrelation / keine signifikante Korrelation [34]

Verschiedene Studien zeigen jedoch, dass eine direkte Übertragung der Determinanten von Hilfeleistung auf Zivilcourage nicht immer möglich ist. So fanden Fischer et al. (2011) heraus, dass der Bystander-Effekt, anders als zuvor von etwa Jonas und Brandstätter (2004) vermutet, in Zivilcourage-Situationen nicht im selben Maße wie bei Hilfeverhalten auftritt.[35] Der Bystander-Effekt bezeichnet das Phänomen der abnehmenden Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens mit steigender Anzahl der anwesenden Zeugen (also potentiellen Helfern). Erklärungen für diesen sind die Diffusion der Verantwortung („Die Anderen können ja auch eingreifen. Warum ich?“), eine harmlosere Einschätzung der Situation aufgrund der ausbleibenden Hilfeleistung der Anderen (pluralistische Ignoranz) und die Angst davor, die Situation fälschlich als Notsituation einzuordnen und sich dadurch vor anderen zu blamieren (Bewertungsangst).[36] Grund dafür, dass der Bystander-Effekt in Zivilcourage-Situationen weniger bzw. gar nicht auftritt, ist die im Vergleich zu Hilfeleistungs-Situationen höhere und schnellere Gefahrenwahrnehmung. Das Erkennen der Notlage und das Bewusstsein für die potentielle Gefahr eines Eingreifenden sorgen dafür, dass der Einzelne eher einschreitet, unabhängig davon, wie viele andere Menschen anwesend sind. Ein weiterer Faktor, dessen Einfluss auf Hilfeverhalten beobachtet wurde, jedoch nicht für zivilcouragiertes Verhalten bestätigt werden konnte ist die Stimmung des (potentiell) Eingreifenden.[37]


Greitmeyer et al. (2006) untersuchten zudem durch retrospektive Befragungen die Unterschiede zwischen Situationen, welche Zivilcourage erforderten und jenen, in welchen lediglich Hilfeverhalten gefragt war. Sie fanden heraus, dass Zivilcourage-Situationen, zwar mehr Empathie hervorrufen als solche, die Hilfeleistung erfordern, die Entscheidung einzugreifen, wird für Zivilcourage jedoch weniger durch Empathie beeinflusst. Zivilcouragiertes Eingreifen korrelierte zudem weniger mit einem Verantwortungsgefühl der Handelnden, als Hilfeverhalten. Gleichzeitig fördert die Aktivierung gesamtgesellschaftlicher Normen die Entscheidung für zivilcouragiertes Verhalten, zeigt jedoch keinen Einfluss auf Hilfeverhalten. Allgemein war die Bewertungsangst, also die Angst vor einer Fehleinschätzung der Situation, in Zivilcourage-Situationen deutlich höher. Zudem hatten potentielle negative Konsequenzen einen signifikanten positiven Einfluss auf zivilcouragierte Intervention, nicht aber auf Hilfeleistung.[38]



Situationsgefahr - Zivilcourage

Gleichzeitig fördert die Aktivierung gesamtgesellschaftlicher Normen die Entscheidung für zivilcouragiertes Verhalten, zeigt jedoch keinen Einfluss auf Hilfeverhalten. Allgemein war die Bewertungsangst, also die Angst vor einer Fehleinschätzung der Situation, in Zivilcourage-Situationen deutlich höher. Zudem hatten potentielle negative Konsequenzen einen signifikanten positiven Einfluss auf zivilcouragierte Intervention, nicht aber auf Hilfeleistung.[39]

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass unterschiedliche Arten prosozialen Verhaltens durchaus von anderen Faktoren bzw. unterschiedlich stark von denselben Faktoren beeinflusst werden und eine Unterscheidung der verschiedenen Arten prosozialen Verhaltens daher zwingend notwendig ist.

Verbreitung

Die Verbreitung von Zivilcourage oder der Bereitschaft zur Zivilcourage ist bisher kaum erforscht. Erklärbar ist dies zum einen damit, dass die Bereitschaft und die Entscheidung, für oder gegen ein Eingreifen, von diversen situativen Faktoren abhängt, weshalb eine Pauschalisierung von der Bereitschaft zu Zivilcourage schwer möglich erscheint. Zum anderen sind, wie weiter oben bereits erwähnt, experimentelle Studien auf diesem Gebiet moralisch schwer vertretbar, eine quantitative Erhebung darüber, wie viele Menschen in einer bestimmten Situation eingreifen würden, ist jedoch anders kaum messbar. Daher kann an dieser Stelle keine Aussage über die Verbreitung von Zivilcourage in der Bevölkerung getroffen werden.

Theorie

Alternative Theorien

Ausgangpunkt für theoretische Erklärungsansätze zivilcouragierten Verhaltens bilden zwei unterschiedliche Arten von Modellen: Das Faktorenmodell sowie das Prozessmodell. Während Faktorenmodelle den Einfluss verschiedenster Kontexte und Determinanten auf zivilcouragiertes Verhalten untersuchen, thematisieren Prozessmodelle den Entscheidungsprozess vom Wahrnehmen einer Situation, die zivilcouragiertes Handeln erfordert, bis hin zu der endgültigen Entscheidung zu Handeln.

Das Faktorenmodell von Meyer (2004) benennt vier wesentliche Determinanten, die Zivilcourage fördern bzw. hemmen. Neben dem sozialen sowie politischen Kontext haben nach Meyer sowohl situative und persönliche Faktoren als auch die Wahrnehmung der Situation sowie der eigenen Handlungsmöglichkeiten einen direkten Einfluss auf das zivilcouragierte Verhalten von Personen.[40] Ein weiteres Faktorenmodell zur Erklärung zivilcouragierten Verhaltens stammt von Frey, Peus, Brandstätter, Winkler und Fischer (2006). Basierend auf der Theorie des geplanten Verhaltens benennen die Autoren vier Determinanten, welche die Absicht zivilcouragierten Handelns beeinflussen[41]:

  1. Situative Bedingungen,
  2. das bisherige Leben der einschreitenden Person,
  3. Persönlichkeitsmerkmale sowie
  4. Hemmfaktoren

Anders als bei Meyer (2004) beeinflussen diese Faktoren jedoch lediglich die Absicht Zivilcourage zu zeigen, jedoch nicht das tatsächliche Handeln. Es kann allerdings angenommen werden, dass die Intensität der Absicht einen Einfluss auf das wirkliche Verhalten der Personen hat.


In Anlehnung an das Modell von Latané und Darley (1970) entwickelten Osswald, Frey, Greitemeyer und Fischer (2007) ein Prozessmodell zur Erklärung von zivilcouragiertem Handeln. Demnach gehen dem eigentlichen Verhalten fünf sequentielle Prozesse voraus. So muss ein Ereignis zu allererst wahrgenommen werden. Der nächste Schritt umfasst das Erkennen der Notlage, gefolgt von der Bewertung und Bejahung der persönlichen Verantwortlichkeit. Weiterhin muss die Verfügbarkeit der notwendigen Kompetenzen zur Zivilcourage überprüft werden und eine Entscheidung hinsichtlich der Art des zivilcouragierten Handelns getroffen werden. Erst wenn diese fünf Schritte durchlaufen sind, findet der eigentliche Eingriff in die Situation statt. Darüber hinaus benennen Osswald et al. förderliche sowie hemmende Faktoren, die auf den gesamten Prozess wirken. So gehen Sie davon aus, dass neben der sofortigen Verfügbarkeit von adäquaten Verhaltensweisen sowie einer ausgeprägten Selbstwirksamkeit die Präsenz von interpersonellen und gesellschaftlichen Normen, Empathie und Empörung als förderliche Faktoren. Erwartete negative Konsequenzen, Bewertungsangst und eine geringe Einschätzung der eigenen Kompetenzen werden als Hemmfaktoren klassifiziert.[42]

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die theoretischen Ansätze der vorgestellten Modelle noch nicht empirisch belegt sind. Dennoch stellen diese eine gute Basis für weitere Forschungen dar.[43]


Ausgewählte Theorien

Ein Prozessmodell für Zivilcourage[44]

Ein Prozessmodell, für die Erklärung zivilcouragierten Verhaltens im organisationalen Kontext, liefern Sekerka und Bagozzi (2007). Die Autoren bilden den Einfluss affektiver sowie kognitiver Komponenten auf den Entscheidungsprozess ab. Dabei unterteilt sich das Modell in zwei voneinander abzugrenzende Schritte: Erstens die Entstehung des Wunsches zu handeln und zweitens die aktive Entscheidung zum Handeln. Darüber hinaus erweitern die Autoren bereits existierende Modelle, um die Komponente des freien Willens, die hier zentrales Merkmal des Entscheidungsprozesses für zivilcouragiertes Eingreifen ist.


Sobald ein Mitarbeiter eines Unternehmens mit einer ethischen Herausforderung konfrontiert wird, beeinflussen emotionale Erfahrungen, die Wahrnehmung der eigenen Selbstwirksamkeit sowie normative Überzeugen den Impuls einzuschreiten – oder nicht. Das Ergebnis dieses affektiven Prozesses manifestiert sich in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Bedürfnis zu handeln.[45] Hierbei ist anzumerken, dass dieses Bedürfnis nicht allein ein Produkt der individuellen Charaktereigenschaften ist, sondern aus einer Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Situation resultiert. So wird der affektive Prozess zusätzlich moderiert durch berufliche Kontextfaktoren, wie beispielsweise den wahrgenommenen Konkurrenz-druck im Unternehmen. Dieser kann mit zunehmender Stärke eine negative Auswirkung auf die Entstehung des Wunsches zu handeln haben, da Mitarbeiter eventuelle negative Konsequenzen für ihre Stellung im Unternehmen befürchten.[46]

Im zweiten Schritt wird das entstandene Bedürfnis in einem bewussten Prozess der Selbstregulation reflektiert. Sekerka und Bagozzi (2007) gehen davon aus, dass Individuen dabei dazu tendieren, abzuwägen, ob ihr Einschreiten zu ihrem persönlichen aber auch zum organisationalen Wohlergehen beiträgt. Dieser Selbst-regulierungsprozess wird dabei sowohl durch Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Wertevorstellungen moderiert, als auch durch die Frage geleitet, ob das Handeln (oder nicht Handeln) im Einklang mit dem angestrebten Menschenbild steht.[47]

Ausgewählter Mechanismus - Gruppennormen

Mit ihrem theoretischen Erklärungsansatz gehen Sekerka und Bagozzi (2007) der Frage nach den Beweggründen für zivilcouragiertes Verhalten am Arbeitsplatz nach. Es wird deutlich, dass der Wille zivilcouragiert zu handeln Grundvoraussetzung für den eigentlichen aktiven Entscheidungsprozess ist. Dabei wird die Entstehung dieses Bedürfnisses maßgeblich durch persönliche Faktoren, wie erlebte Emotionen, die Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit sowie subjektive Normen beeinflusst, die wiederum durch soziale Kräfte, wie Gruppennormen oder Leitlinien im Unternehmen geleitet werden.[48] Letzterem kommt insbesondere im organisationalen Kontext eine gesonderte Rolle zu, da der Arbeitsplatz in der Regel ein stabiles soziales Umfeld darstellt, das die eigene Persönlichkeit nachhaltig prägt. Im Folgenden soll deshalb der Mechanismus hinter dieser Wirkungsbeziehung zwischen Gruppennormen und Zivilcourage genauer beleuchtet werden.

Allgemein umfassen Gruppennormen geteilte Werte- und Zielvorstellungen innerhalb einer Gruppe [49] die durch den zugrundeliegenden Prozess der Internalisierung übernommen werden. Dabei werden vorgelebte Verhaltensstandards von relevanten Bezugspersonen der Gruppe verinnerlicht und dienen als Orientierung für das eigene Handeln. Im organisationalen Kontext können Gruppennormen durch die Unternehmenskultur abgebildet werden. Durch die zugrundeliegenden normativen Strukturen werden Vorstellungen über richtiges und falsches Verhalten vermittelt. So verinnerlichen Mitarbeiter, die neu in das Unternehmen kommen, durch den Internalisierungsprozess die kollektiven Werte- und Zielvorstellungen.[50]


Mechanismus Gruppennormen - Zivilcourage

Voraussetzung für eine positive Wirkung der Gruppennormen auf zivilcouragiertes Handeln im organisationalen Kontext ist jedoch eine starke Unternehmenskultur, dessen normative Strukturen auf prosozialen Werten basieren. Klare Ziele und Überzeugungen des Unternehmens, helfen den Mitarbeitern dabei, ethisch richtiges oder falsches Verhalten zu beurteilen und wirken sich positiv auf zivilcouragiertes Handeln aus. Diesbezüglich stellen Sekerka und Bagozzi (2007) die These auf, dass je stärker die verinnerlichten prosozialen Normen sind, desto stärker der Wunsch ist, in einer ethisch fragwürdigen Situation einzuschreiten. Dabei dienen klare Ziel- und Wertevorstellung einerseits als Orientierung für das eigne Handeln und fördern so die Entstehung des Bedürfnisses einzuschreiten, andererseits führen diese zu der Entwicklung eines Pflichtgefühls gegenüber der Gruppe, wodurch das Bedürfnis zivilcouragiert zu handeln verstärkt wird, sobald man mit einer ethischen Herausforderung konfrontiert wird, in die ein weiteres Gruppenmitglied involviert ist.[51] Dieses Bedürfnis wird darüber hinaus durch die Übereinstimmung der eigenen Werte- und Zielvorstellungen mit den Gruppennormen zusätzlich verstärkt.[52]

Eine schwach ausgeprägte Unternehmenskultur kann jedoch auch einen gegenteiligen Effekt auf das Bedürfnis zivilcouragiert zu handeln haben. Sind die Werte- und Zielvorstellungen des Unternehmens nicht klar definiert, dienen sie somit auch nicht als Handlungsleitlinie für das eigene Verhalten sowie die Beurteilung von richtigem und falschem Verhalten. Dies kann dazu führen, dass Mitarbeitern nicht deutlich bewusst ist für welche Werte Sie einstehen sollen. In diesem Fall wird die Entstehung des Wunsches zu handeln nicht durch die vorherrschenden Gruppennormen unterstützt.[53]


Die Bedeutung von Zivilcourage für Change-Phänomene

Zivilcourage und Wandel stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander. So erfordern Change-Prozesse einerseits eine besondere Bereitschaft zu zivilcouragiertem Verhalten, da hier eine große Gefahr besteht, die Rechte einzelner Mitarbeiter oder Gruppen zu verletzen. Andererseits kann Zivilcourage als Motor für den Wandel gesehen werden.

Die Theorie von Frey und Schnabel (2016) bezieht sich auf Letzteres und stellt den positiven Einfluss von zivilcouragiertem Verhalten am Arbeitsplatz auf den nachhaltigen Erfolg des Unternehmens heraus. Dabei postulieren die Autoren, dass Zivilcourage die Motivation, Kreativität und Innovationsfähigkeit der Mitarbeiter fördert – Faktoren, die einen Change-Prozess anstoßen können oder zumindest förderlich für diesen sind.[54] Allerdings wird auch deutlich, dass hierfür eine Unternehmenskultur inklusive geteilter Werte- und Zielvorstellungen notwendig ist, die zivilcouragiertes Verhalten zulassen. Dies steht im Einklang mit den Erkenntnissen von Sekeka und Bagozzi (2007), die einen positiven Einfluss von Gruppennormen auf den Wunsch zivilcouragiert zu Handeln hervorheben.[55] Voraussetzung für Zivilcourage am Arbeitsplatz ist somit eine offene Unternehmenskultur die zivilcouragiertes Verhalten begrüßt. Dabei stellt Bandura (1991) heraus, dass das Umfeld einen reziproken Einfluss auf die Bereitschaft zivilcouragiert zu Handeln hat.[56] In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass insbesondere Führungskräften eine gesonderte Verantwortung zukommt. Sie fungieren als Vorbild, dessen vorgelebte Verhaltensmuster die Internalisierung der geteilten Wert- und Zielvorstellung nachhaltig beeinflusst.[57] So sollte eine Führungskraft beispielsweise eine offene, transparente und sichere Atmosphäre schaffen, in der die Diskussion moralischer Fragen willkommen oder sogar gefördert wird. Durch die vorgelebten Werte wird die Bereitschaft der Mitarbeiter Zivilcourage zu zeigen gefördert, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich ein Mitarbeiter aktiv dazu entscheidet zu handeln.

Literatur

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Bierhoff, H. W. (2004). Handlungsmodelle für die Analyse von Zivilcourage: Zivilcourage lernen. Analysen, Modelle Arbeitshilfen. Tübingen: Institut für Friedenspädagogik eV, 60-68.

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Frey, D., Peus, C., Brandstätter, V., Winkler, M., & Fischer, P. (2006). Zivilcourage. Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, 180-186.

Frey, D., & Schnabel, A. (2016). Zivilcourage am Arbeitsplatz: Sind kritische Mitarbeiter erwünscht?. Zivilcourage: Aufrechter Gang im Alltag, 91.

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Jonas, K. J., & Brandstätter, V. (2004). Zivilcourage. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 35(4), 185-200.

Kelman, H. C. (1974). Further thoughts on the processes of compliance, identification, and internalization. Perspectives on social power, 125-171.

Kidder, R. M. (2006). Ethical Decision-Making and Moral Courage. Business Ethics, (2), 81-96.

Kuhl, U. (1986). Selbstsicherheit und prosoziales Handeln: Zivilcourage im Alltag. Profil-Verlag.

Labuhn, A. S., Wagner, U., van Dick, R., & Christ, O. (2004). Determinanten zivilcouragierten Verhaltens: Ergebnisse einer Fragebogenstudie. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 35(2), 93-103.

Meyer, G., & Hermann, A. (2000). Zivilcourage im Alltag. Ergebnisse einer empirischen Studie. Politik und Zeitgeschichte, 7-8.

Meyer, G. (2004). Was heißt mit Zivilcourage handeln?: Zivilcourage lernen: Analysen-Modelle-Arbeitshilfen. Inst. für Friedenspädagogik, 22-42.

Meyer, G. (2012). Jenseits von Gewalt – Zivilcourage als sozialer Mut im Alltag: Zivilcourage, 19-54.

Nunner-Winkler, G. (2002). Zivilcourage als Persönlichkeitsdisposition-Bedingungen der individuellen Entwicklung. In Zivilcourage und Demokratische Kultur. 6. Dietrich Bonhoeffer-Vorlesung Juli 2001 (pp. 77-105). LIT Verlag.

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Trevino, L. K. (1986). Ethical decision making in organizations: A person-situation interactionist model. Academy of management Review, 11(3), 601-617.

Einzelnachweise

  1. Meyer, 2012
  2. Jonas & Brandstätter, 2004
  3. Jonas & Brandstätter, 2004; Meyer, 2012
  4. Jonas & Brandstätter, 2004
  5. Kidder, 2006
  6. Meyer, 2012
  7. Greitemeyer, Fischer, Kastenmüller & Frey, 2006
  8. Kidder, 2006
  9. Frey & Schnabel, 2016
  10. Meyer, 2012
  11. Meyer, 2012
  12. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  13. Fischer, Asal & Krueger, 2013
  14. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010; Fischer, Asal & Krueger, 2013
  15. Jonas & Brandstätte, 2004; Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  16. Fischer, Asal & Krueger, 2013
  17. T. Greitemeyer, Fischer, Kastenmüller & Frey, 2006
  18. Fischer, Asal & Krueger, 2013
  19. Jonas & Brandstätte, 2004
  20. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  21. Bierhoff, 2004
  22. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  23. Meyer & Hermann, 2000
  24. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  25. Nunner-Winkler, 2002
  26. Meyer & Hermann, 2000
  27. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  28. Kuhl, 1986
  29. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  30. Labuhn, Wagner, Dick & Christ, 2004
  31. Meyer, 2012
  32. Jonas & Brandstätter, 2004
  33. Greitemeyer, Fischer, Kastenmüller, & Frey, 2006
  34. Greitemeyer, Fischer, Kastenmüller, & Frey, 2006
  35. Jonas & Brandstätter, 2004; Fischer, Asal & Krueger, 2013
  36. Fischer, Asal & Krueger, 2013
  37. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  38. Greitemeyer, Fischer, Kastenmüller & Frey, 2004
  39. Greitemeyer, Fischer, Kastenmüller & Frey, 2004
  40. Meyer, 2004
  41. Frey, Peus, Brandstätter, Winkler & Fischer, 2006
  42. Osswald, Greitemeyer & Fischer, 2007
  43. Osswald, Greitemeyer, Fischer & Frey, 2010
  44. Sekerrka & Bagozzi, 2007
  45. Sekerrka & Bagozzi, 2007
  46. Trevino, 1986
  47. Sekerrka & Bagozzi, 2007
  48. Sekerka & Bagozzi, 2007
  49. Eagly & Chaikeni, 1993
  50. Trevino, 1986
  51. Sekerka & Bagozzi, 2007
  52. Kelman, 1974
  53. Trevino, 1986; Sekerka & Bagozzi, 2007
  54. Frey & Schnabel, 2016
  55. Sekerka & Bagozzi, 2007
  56. Bandura, 1991
  57. Hannah, Avolio & Walumbwa, 2011