Solidarische Ökonomie

Aus Personal_und_Führung
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Solidarische Ökonomie stellt eine Form des alternativen Wirtschaftens dar. Jedoch wird unter dem Begriff kein einheitliches Konzept verstanden. Vielmehr gibt es aufgrund historischer Entwicklungen und geografischer Parallelentwicklungen zahlreiche Konzepte, die mit der Solidarischen Ökonomie in Verbindung gebracht werden können [1][2]. Grundlegend orientieren sich diese an sozialen, demokratischen und ökologischen Ansätzen, wobei die Bedürfnisse der Menschen bzw. das Gemeinwohl im Vordergrund stehen.

Begriff und Dimensionen

Der Begriff der Solidarischen Ökonomie umfasst eine große Bandbreite an Konzepten und ist bewusst offengehalten [3]. Zu den Konzepten des alternativen Wirtschaftens zählen zum Beispiel: Alternative Ökonomie, Community Economy, Dritter Sektor, Gemeinwesenökonomie, Lokale Ökonomie, Solidarische Ökonomie, Soziale Ökonomie, Soziale und Solidarische Ökonomie [4]. Anhand der Bezeichnungen lässt sich bereits ablesen, dass viele Ähnlichkeiten zwischen den Konzepten bestehen [5]. Gleichzeitig wird deutlich, dass selbst bei der gleichen Begriffsverwendung unterschiedliche Konzepte beschrieben werden [6]. Durch diese Vielfältigkeit der Ausprägungen von Solidarischer Ökonomie lässt sich keine einheitliche und präzise Definition festlegen. Der Grundgedanke der Bedürfnisorientierung bzw. des Gemeinwohls ist allen solidarökonomischen Konzepten gemein. Das Gemeinwohl, also das Wohl der Mitglieder, Konsumenten, des lokalen Umfelds oder einer anderen bestimmten Gruppe steht bei allen Konzepten im Mittelpunkt [7][8][9][10]. Daneben lassen sich fünf Dimensionen identifizieren, die mehr oder weniger in allen Ausprägungen Solidarischer Ökonomie enthalten sind:

Zusammenarbeit – Die Zusammenarbeit im Kollektiv bezieht sich auf den Gedanken des Wohls der Gemeinschaft. Das gemeinsame Arbeiten fördert dieses Wohl langfristig.
Selbstorganisation – Die Selbstorganisation beinhaltet die alternative, demokratisch organisierte, wirtschaftliche Aktivität der Projekte. Gearbeitet und organisiert wird entweder ohne oder mit möglichst flachen Hierarchien [11][12][13].
Solidarität – Die Solidarität ist ein zentrales Handlungsprinzip. Solidarität ist handlungs- und werteorientiert und versteht sich als zwischenmenschliche Kooperation, Unterstützung und Hilfe. Solidarisches Verhalten wird durch Werte und Normen motiviert [14].
Freiwilligkeit – Freiwilligkeit bezieht sich auf die Teilnahme an Projekten. Kein Mitglied, Konsument oder Stakeholder (z.B. Spender) ist verpflichtet bei diesen Projekten mitzumachen [15].
Demokratie – Die Grundlage für die Organisation von Projekten in Solidarischen Ökonomien ist eine demokratische Grundordnung, wobei die Ausgestaltung bei den jeweiligen Projekten variiert [16][17].

Geschichte

Die Geschichte der Solidarischen Ökonomie lässt sich weit zurückverfolgen, auch wenn die Anfänge nicht unbedingt direkt mit solidarischen Haltungen verbunden waren. Vielmehr verbreiteten sich alternative Formen des Wirtschaftens im Gegenzug zum aufkommenden Kapitalismus .

Frühsozialismus

Unter Frühsozialismus werden frühe sozialistische Theorien zusammengefasst, die vor 1848 aufkamen. Bereits im 16. Jahrhundert lassen sich die Anfänge von solidarischen Ökonomiebewegungen im Humanismus finden. Später sind die Auffassungen und Denkmuster der Frühsozialisten stark von den Bedingungen der frühen Industrialisierung geprägt. Die große Armut der arbeitenden Bevölkerung und das Elend der Zeit sorgen bei Ihnen für alternative Ideen des Wirtschaftens. Die Vorhaben basieren meist auf der Idee, Konzepte des alternativen Lebens und Wirtschaftens im Kleinen zu erproben. Daher lassen sich einige Parallelen zu heutigen Solidarischen Ökonomien finden [18].

Kollektive Lebensgemeinschaften

Die kollektiven Lebensgemeinschaften des 18. und 19. Jahrhunderts ähneln ideengeschichtlich dem Frühsozialismus. Die Lebenszustände der Zeit und das Aufkommen des Kapitalismus sind idealer Nährboden und so entwickeln sich die kollektiven Lebensgemeinschaften aus der Kritik am herrschenden System. Die Beweggründe sind vielseitig und reichen von christlichen, ökonomischen bis hin zu kollektiven Überlegungen [19]. Charles Fourier und Robert Owen sind mit ihren utopischen Entwürfen meist Vorbild für Konzepte von kollektiven Lebensgemeinschaften gewesen [20].

Marxismus

Im 19. Jahrhundert begründen die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels den Marxismus, der den Kapitalismus ablehnt und als dessen Konkurrenz gewertet werden kann. Die Marxisten lehnen die Konzepte der Frühsozialisten und der alternativen Gemeinschaften als Reformismus und Revisionismus ab. In dieser Zeit treffen der wissenschaftliche und der Frühsozialismus aufeinander und stehen sogar im Widerspruch zueinander [21]. Dieser Widerspruch spiegelt sich auch heute noch in den Spannungsfeldern der verschiedenen Solidarischen Ökonomien wider. Eine Frage besteht darin, wie die Einbindung bzw. Rollenfindung im Kapitalismus geschehen kann [22], um die Solidarische Ökonomie somit massenfähig zu machen.

Anarchistische Gesellschaftstheorien

Im 19. Jahrhundert entwickeln Theoretiker anarchistische Gesellschaftstheorien für eine herrschaftsfreie Welt. Ziel ist es, das Leben im Kollektiv mit maximaler persönlicher und politischer Freiheit zu gestalten [23]. Die Bedürfnisse des Menschen stehen demnach wie bei der Solidarischen Ökonomie im Mittelpunkt.

Genossenschaften

Ebenfalls im 19. Jahrhundert entwickeln sich die ersten Genossenschaften im deutschsprachigen Raum, welche oftmals durch die Frühsozialisten inspiriert sind [24]. Gründungswellen treten vermehrt nach größeren Umbrüchen auf und etablierten sich so zunehmend im Bild der Welt. Genossenschaften verfolgen unterschiedliche Ziele, ob christlich-sozial, anarchistisch oder sozialistisch [25]. Ähnlich wie bei den Solidarischen Ökonomien stehen das Wohl des Menschen und das Kollektiv im Mittelpunkt.

Alternative Ökonomien

In den 1970er und 80er Jahren erhalten Konzepte rund um das Feld der alternativen Ökonomien (selbstverwaltende Betriebe, Kommunen, Lebensexperimente, etc.) frischen Wind. Motiviert werden diese Entwicklungen von einer grundlegenden Kritik an kapitalistischen Produktionsverhältnissen und politischen Strategien, die nicht die erhofften Wirkungen erzielt haben [26].

Solidarische Ökonomie

Das Konzept der Solidarischen Ökonomie, welches Überschneidungen mit den anderen Konzepten aufweist, stammt ursprünglich aus Lateinamerika und hat sich dort ebenfalls in den 1970er und 80er entwickelt [27]. Grund hierfür ist die flächendeckende Verschlechterung der Lebenssituation von großen Bevölkerungsteilen gewesen, die dadurch gezwungen waren, nach Alternativen zu suchen. Vermehrt findet der Begriff auch im internationalen Kontext Anwendung.

Das brasilianische Konzept der Solidarischen Ökonomie

In Brasilien ist die Bewegung der Solidarischen Ökonomie entstanden, um eine Antwort auf soziale Ausgrenzung und einen Weg aus der Armut zu finden. Wohingegen früher die Armut hauptsächlich auf dem Land anzutreffen war, ist die Armut heutzutage vor allem ein Problem in den Städten [28]. Ausgangspunkt der brasilianischen Bewegung war das Weltsozialforum, das sich 2001 erstmals in Porto Alegre, Brasilien traf. Dort wurde offen über einen alternativen Weg des Wirtschaftens diskutiert. Grundsätzlich werden der global dominierende Neoliberalismus und jegliche Form von Imperialismus kritisch gesehen. Aus dem Weltsozialforum entstand zunächst die Brasilianische Arbeitsgruppe der Solidarischen Ökonomie (GT-Brasileiro). Diese schlug der neu gewählten, links gerichteten Arbeiterpartei (PT) im Jahr 2002 vor, die Solidarische Ökonomie als politische Entwicklungsstrategie institutionell zu verankern. Somit entstand 2003 das Nationale Sekretariat für Solidarökonomie (SENAES), welches dem Ministerium für Arbeit und Beschäftigung angegliedert ist und von dem Ökonomen Paul Singer geleitet wird. Die Bewegung der Solidarischen Ökonomie breitete sich nun rasch auf nationaler Ebene aus und zahlreiche weitere Initiativen wurden ins Leben gerufen, um die Arbeit des SENAES zu unterstützen. So wurde z.B. das Brasilianische Forum der Solidarischen Ökonomie (FBES) gegründet. Dieses existiert in jedem Bundesland, bündelt dort die Kooperationen und trifft sich mit der dortigen Bundesstaatsregierung, um einen Austausch zu ermöglichen [29][30][31].

Tragende Elemente der Solidarischen Ökonomie auf lokaler Ebene

Auf der Mikroebene existieren in Brasilien viele verschiedene Solidarische Ökonomiebewegungen. Einige der grundlegenden Eckpfeiler werden im Folgenden dargestellt, auch wenn die lokalen Bewegungen sich in Bezug auf Ausgestaltung und Zielvorhaben durchaus unterscheiden können:

Eigentum: In Brasilien sind es oft Nachbarschaftsvereinigungen, die sich nach dem Prinzip der Solidarischen Ökonomie organisieren. Es können aber auch Kirchen oder andere lokale Vereinigungen sein, die sich zu diesem Schritt entschließen. Die Betriebe im System müssen aber nicht zwangsläufig der Gemeinschaft gehören, sie können auch in Privatbesitz sein. Allerdings gibt es viele genossenschaftlich geführte Betriebe [32]. Die Solidarische Ökonomie wird auf Mikroebene meist durch die Anwohner einer Nachbarschaft bzw. eines Stadtviertels geführt und ist geographisch auf einen kleinen Raum begrenzt. Allerdings sind die einzelnen Solidarischen Ökonomie Bewegungen regional, überregional und teils sogar international miteinander vernetzt, unter anderem durch das FBES [33].
Führung: Die Solidarische Ökonomie basiert auf den Prinzipien der Autonomie und der Selbstverwaltung. Da Gleichheit und Gleichberechtigung als hohe Werte angesehen werden, sind Hierarchien nicht erwünscht. Es gibt demnach keinen klassischen Manager als Anführer, der selbstständig Entscheidungen trifft und hierarchisch höher angesiedelt ist. Vielmehr wird nach demokratischen Prinzipien gehandelt und eine Kommunikation auf Augenhöhe angestrebt. Ein Community Leader übernimmt dennoch oftmals eine Führungsrolle, auch wenn diese nicht offiziell existiert. Die ideologisch geprägte Führungsrolle ergibt sich oft aus den Tätigkeitsbereichen des Community Leaders. Dieser ist meist eine besonders engagierte Persönlichkeit, die sich in vielen verschiedenen Bereichen der Nachbarschaft bzw. der Gemeinde engagiert und somit als Anführer respektiert wird. Er steuert Ideen für neue Projekte bei und organisiert regelmäßig Treffen in Form von Foren oder Gremien, um über diese Projekte zu diskutieren und abzustimmen. Jeder Nachbar ist zu diesen Treffen eingeladen und darf sich beteiligen [34].
Entscheidungsfindung: Die Entscheidungsfindung erfolgt durch demokratische Abstimmungsprozesse, da die Demokratie in der Solidarischen Wirtschaft das zentrale Element ist. Das demokratische Prinzip erhebt den Anspruch auf Transparenz und es steht jedem frei, sich an den Abstimmungen zu beteiligen.
Mitgliedschaft: Als Mitglieder gelten prinzipiell diejenigen, die sich mit den Werten der Solidarischen Ökonomie identifizieren können und sich aktiv oder passiv beteiligen möchten. Eine offizielle Mitgliedschaft oder spezifische Kriterien gibt es nicht. Es reicht aus, in der Nachbarschaft seinen Wohnsitz zu haben oder zumindest in der Nähe des Stadtviertels zu wohnen. Allerdings gibt es keine offizielle Unterscheidung zwischen einem Mitglied der Gemeinschaft und einem Nichtmitglied, jeder ist willkommen, der mitmachen möchte.

Solidarische Ökonomie mithilfe von Community Development Banks

In Brasilien äußert sich Armut unter anderem darin, dass erhebliche Teile der Bevölkerung von traditionellen Finanzdienstleistungen ausgeschlossen sind und aufgrund schlechter Bildung keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dies bedeutet konkret, dass diese Menschen kein Girokonto oder Sparbuch besitzen, keinen Kredit aufnehmen können und ausschließlich von Bargeld und Sozialhilfe leben. 1998 wurde daher durch eine Nachbarschaftsvereinigung die erste Community Development Bank Brasiliens gegründet, die Banco Palmas. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, nach den Prinzipien der Solidarischen Ökonomie zu handeln und somit die Armut in der Nachbarschaft gemeinsam zu bekämpfen, u.a. indem Zugang zu den einfachsten Finanzdienstleistungen gewährt wird. Ihr Motto lautet: „Niemand überwindet die Armut allein“ („Ninguém supera a pobreza sozinho“). Da sich das Konzept der Banco Palmas bewährt hat, wurde es mithilfe des SENAES inzwischen hundertfach auf andere Nachbarschaften bzw. Stadtviertel und Gemeinden übertragen [35] [36]

Im Folgenden wird das Konzept der Solidarischen Ökonomie auf Basis einer Community Development Bank exemplarisch dargestellt:

Initiative der Nachbarschaft
Von zentraler Bedeutung für die Implementierung des Konzepts ist immer eine Form von Organisation, oft sind es Nachbarschaftsvereinigungen, die ihr Interesse bekunden. Diese haben beispielsweise über die Medien von der Solidarischen Ökonomie gehört und möchten diese Form des Wirtschaftens und des Zusammenlebens ausprobieren.

Hilfestellung durch etabliertes Netzwerk
Als erster Schritt kann das Nationale Sekretariat für Solidarische Ökonomie (SENAES) kontaktiert werden. Es verfügt über ein eigenes Budget und unterstützt Initiativen der Solidarischen Ökonomie sowohl durch Steuermittel als auch durch sein weites Netzwerk.

Gründung der Community Development Bank
Der zentrale Schritt ist zunächst die Gründung einer Community Development Bank, die durch die Nachbarschaftsvereinigung auf demokratischer Basis geführt wird. Bei der operativen Umsetzung der Gründung kann eine Nachbarschaftsvereinigung auf ein etabliertes Netzwerk aus bestehenden Community Development Banks zurückgreifen, die durch verschiedene Vertreter (z.B. dem Instiuto Banco Palmas) Hilfestellungen erhalten. Da die Nachbarschaftsvereinigung die Bank selbst leiten wird, muss erstere zunächst in den Prinzipien der Solidarischen Ökonomie und dem operativen Tagesgeschäft einer Bank geschult werden. Mitarbeiter aus der Gemeinde müssen akquiriert und fortgebildet werden, außerdem wird ein geeignetes Gebäude benötigt. Finanziert wird dies unter anderem durch das Budget des SENAES [37].

Die Rolle der privaten Banken
Das Kreditvolumen stellen dagegen oft Privatbanken, die erkannt haben, wie lukrativ das Geschäft mit der ärmsten Bevölkerungsschicht sein kann. Die Privatbanken gewähren den Community Development Banks daher Kreditvolumen (zu akzeptablen Zinssätzen). Oft haben die Privatbanken in den ärmsten Stadtvierteln selbst keine Filialen und zahlen daher eine Gebühr an die Community Development Banks, damit diese sie als Korrespondenten vor Ort vertreten [38].

Regionalwährung
Ein besonders wichtiger Eckstein der Community Development Banks ist die Einführung einer Regionalwährung, die nur im eigenen Stadtteil akzeptiert wird und so auch nur dort zirkulieren kann. Der Hintergrund hierfür ist, dass die Anwohner ihr Geld oft außerhalb des eigenen Stadtviertels ausgeben, z.B. in den Shopping Malls bei internationalen Konzernen. Das Geld verschwindet somit aus dem lokalen Wirtschaftskreislauf. Da aber auch die Ärmeren in der Summe eine erhebliche Kaufkraft haben, werden sie durch die Regionalwährung angehalten, lokal zu konsumieren, um vor Ort die Arbeitsplätze zu sichern. Oftmals sind alle Geschäfte des täglichen Bedarfs in der Nachbarschaft vorhanden, ob Supermarkt, Friseur oder Autowerkstatt. Es soll nun ein Bewusstsein für die Nutzung der lokalen Angebote geschaffen werden, um den Arbeitsplatz des eigenen Nachbarn bzw. der Familienangehörigen zu sichern [39].

Die Vergabe von Mikrokrediten
Kredite werden an vertrauenswürdige Mitglieder der Gesellschaft vergeben und die Kreditwürdigkeit wird unkonventionell durch Interviews mit Nachbarn ermittelt. Konsumkredite werden ausschließlich in der regionalen Währung vergeben, Produktionskredite auch in der Landeswährung. Die Zinssätze sind dabei sehr niedrig verglichen mit denen der Privatbanken. Unternehmensgründungen werden gefördert und sind erwünscht, jedoch ist das Miteinander wichtiger als der reine Profitgedanke. Ein rücksichtloser Wettkampf wird vermieden, indem Kredite nur dann gewährt werden, wenn die neue Geschäftsidee keine andere unmittelbar beeinträchtigt. Vor allem der soziale Druck ist groß, den Kredit für seinen vorgesehenen Zweck zu verwenden und die Raten rechtzeitig zu tilgen. Dieser Druck entsteht zum einen dadurch, dass die Nachbarn durch die Interviews genau wissen, wofür der Kreditnehmer das geliehene Geld erhalten hat. Zum anderen hängen Listen mit den Namen derjenigen gut sichtbar in der Community Bank aus, die ihren Kredit nicht zurückzahlen konnten. Dazu kommt es jedoch nur in Ausnahmefällen, da die Bankmitarbeiter zunächst das persönliche Gespräch suchen und der Rückzahlungszeitraum bzw. die Höhe der Tilgungsraten angepasst werden können [40].

Rücksichtnahme und Kooperation
Obwohl die Community Development Banks für Produktionskredite Zinsen nehmen und auch die gegründeten Betriebe Profit erwirtschaften dürfen und sollen, führen laut der vertretenen Ideologie Rücksichtnahme und Kooperation zu mehr Wohlstand für alle. Könnte ein Unternehmer beispielsweise seinen Profit erheblich steigern, indem er die Preise seines Konkurrenten unterbietet, so würde ersterer zwar mehr Gewinn erwirtschaften, letzterer könnte jedoch insolvent gehen. Dies ist im Kapitalismus durchaus legitim, die Solidarischen Ökonomie hingegen sieht ein anderes Szenario als idealer an: Sie würde es befürworten, dass beide Unternehmer ihr Geschäft fortführen und somit ihren Arbeitsplatz behalten, wenn auch bei geringerem Profit. Durch gemeinsame ökonomische Entscheidungen kann das Überleben eines jeden einzelnen länger gesichert werden als durch isolierte Entscheidungen einzelner Akteure.

Bildungsmaßnahmen
Neben dem Zugang zu Finanzdienstleistungen stehen soziale Projekte und die Bildung im Vordergrund der Community Development Banks. Vor allem Jugendliche und Frauen sind in der brasilianischen Gesellschaft häufig benachteiligt. Daher richten sich viele Projekte an Jugendliche und Frauen. Jugendliche besuchen berufsbildende Maßnahmen oder engagieren sich in verschiedenen AGs, auch, um nicht in die Drogenkriminalität abzurutschen. Bei den Frauen wird vor allem Wert auf die Emanzipation gelegt, da viele Frauen finanziell stark abhängig von ihren Ehemännern sind oder alleinerziehend und oft schlecht gebildet. Ziel ist es, ihnen neben einem gewissen Selbstwertgefühl auch praktische Fähigkeiten mit an die Hand zu geben, in Form von Koch-, Näh-, oder Handwerkskursen. Somit können sie sich mit einem kleinen (meist informellen) Unternehmen selbstständig machen und ein eigenen Zusatzeinkommen generieren, welches oft eher einen symbolischen Wert hat, sich aber durchaus auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell entwickeln kann [41]

Eigene Darstellung - System des brasilianischen Konzepts der Solidarischen Ökonomie

Regionalwährung als Mechanismus

Theoretische Funktion

Ein zentraler Bestandteil der Solidarischen Ökonomie in Brasilien ist die Einführung einer Regionalwährung [42]. Diese stellt einen zentralen Mechanismus innerhalb der Solidarischen Ökonomie dar. Es soll ein positiver Output generiert werden, nämlich ein Einkommen innerhalb einer Nachbarschaft. Der unmittelbare Output ist der erhöhte Konsum in einer bestimmten Region, in der die Währung gilt. Regionalwährung oder Regionalwirtschaften werden oft mit Postwachstumsökonomie in Verbindung gebracht [43]. Paech fasst die Funktion einer Regionalökonomie wie folgt zusammen:

„Regionalökonomie. Viele Bedarfe ließen sich durch regionale Märkte, verkürzte Wertschöpfungsketten […] befriedigen. Regionalwährungen könnten Kaufkraft an die Region binden und damit von globalisierten Transaktionen abkoppeln. So würden die Effizienzvorteile einer geldbasierten Arbeitsteilung weiterhin genutzt, jedoch innerhalb eines ökologieverträglicheren und krisenresistenteren Rahmens.“ (Paech 2009, S. 30)

Dieser Mechanismus kann anhand des Wirtschaftskreislaufes [44] erläutert werden. In dieser Betrachtung entsteht durch die Einführung einer eigenen Währung eine neue, regional begrenzte Volkswirtschaft. Das bisher vorherrschende System, also die nationale Volkswirtschaft samt Zu- und Abflüssen von Geldern stellt das "Ausland" der regionalen Volkswirtschaft dar. Da es sich nicht um eine echte Volkswirtschaft handelt, fällt der Staat als Akteur weg. Steuern und Sozialleistungen gibt es nicht, ebenso wenig Beamte. Die Rolle der Banken nehmen die Community Development Banks ein, die die Regionalwährung ausgeben und steuern können.

Eigene Darstellung - Mechanismus / Wirtschaftskreislauf

Die Banken versorgen die Gewerbe und privaten Haushalte mit Krediten. Gewerbetreibende erhalten Kredite in der brasilianischen Währung „Reais“, um notfalls auch außerhalb der Nachbarschaft einkaufen zu können. Private Haushalte erhalten Kredite ausschließlich in der Regionalwährung. Gab es vor der Einführung einen erheblichen Import der Haushalte und somit einen Kapitalabfluss ins Ausland, so ist dieser Weg nun verwehrt, da die Regionalwährung nur in der Nachbarschaft angenommen wird. Private Haushalte werden also durch die Regionalwährung dazu angehalten, im lokalen Gewerbe einzukaufen, diese können die erhaltene Regionalwährung wiederum nur lokal als Lohn auszahlen oder lokal konsumieren. Es entsteht ein regionaler Kreislauf, angetrieben durch Investitionen aus der Nachbarschaft, die erst durch die Community Development Banks ermöglicht werden. Auf regionaler Ebene profitieren demnach alle Beteiligten.

Kritische Reflektion

Auch wenn die theoretische Argumentation in sich schlüssig ist, so muss diese Erklärung im Falle der brasilianischen Solidarökonomie und im Hinblick auf die sozialen Dynamiken in einem Viertel kritisch hinterfragt werden. Dabei spielen zwei Gedanken eine zentrale Rolle:

• Die Regionalwährung schafft zwar Anreize, allerdings kann auch ohne eigene Währung lokal konsumiert werden, da die Gewerbe auch Reais annehmen. Insgesamt würde dem Viertel der erhebliche Verwaltungsaufwand erspart bleiben. Individuell ist mit der Nutzung der Regionalwährung kein Vorteil verbunden.
• Oft wird die Währung aus oben genannten Gründen kaum genutzt. Dennoch wird vermehrt lokal konsumiert und somit tritt der Output "Verringerung der Armut" trotzdem ein.

Die Einführung einer Regionalwährung steht also nicht, wie zunächst angenommen, in einem einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip zu der Generierung von Einkommen in einer Nachbarschaft und somit dem Output "Verringerung der Armut". Vielmehr spielt die Bildung sowie die soziale Kontrolle eine zentrale Rolle in diesem Mechanismus.

Alternative Erklärung

Die Einführung der Regionalwährung findet nicht isoliert statt. Parallel dazu werden verschiedene Bildungsveranstaltungen z.B. Workshops zum Thema "bewusster Konsum", "einfache Grundlagen des Wirtschaftens" oder auch Fachworkshops beispielsweise zum Thema "Reparatur von defekten Computern" angeboten. Dadurch entsteht ein Bewusstsein für Konsum und wirtschaftliche Zusammenhänge. Auf individueller Basis kann dadurch eine Reflektion angestoßen werden, warum eine lokale Währung und lokaler Konsum für das Individuum zwar unattraktiv ist (Internationale Mode wird z.B. oft als „cooler“ wahrgenommen), aber für die Nachbarschaft einen erheblichen Vorteil bringt.

Dieses Bewusstsein stößt neben dem individuellen Verhalten auch die starke soziale Kontrolle innerhalb einer Nachbarschaft an. Erst dadurch, dass im kollektiven Bewusstsein verankert wird, dass lokaler Konsum positiv für die Gemeinschaft ist und überregionaler Konsum der Gemeinschaft schadet, kann sozialer Druck auf die Individuen aufgebaut werden. Die Regionalwährung bietet die Möglichkeit der Kontrolle, da mit ihr nur regional konsumiert werden kann und sie somit eine sichtbare "Markierung" ist. Der Grund der Kontrolle ist das kollektive Bewusstsein. Ein ähnlicher Effekt findet sich beispielsweise unter politisch motivierten Veganern in Bezug auf Fleischkonsumierende. Somit ist die lokale Währung zwar Anstoß eines wichtigen Reflektionsprozesses und Instrument für eine bessere Kontrolle, sie kann aber nicht als alleiniger Input betrachtet werden. Der soziale Input durch Bildungsveranstaltungen, der Austausch im Viertel und ein kollektives Konsumbewusstsein sind mindestens gleichwertig zu betrachten. Die Einführung der Regionalwährung spielt also nicht die zentrale Rolle, die ihr oft zugeschrieben wird.

Eigene Darstellung - Mechanismus / Wirtschaftskreislauf

Die Rahmenbedingungen dieses Mechanismus sind vielseitig. Es braucht eine Gemeinschaft, die sich als Gruppe versteht und an einer gemeinsamen Entwicklung interessiert ist, um sozialen Druck ausüben zu können. Außerdem braucht es Motivation und die Bereitschaft, etwas ändern zu wollen. Dies geschieht meist nur dort, wo die wirtschaftliche Situation nicht zufriedenstellend ist und die Bewohner sich darüber bewusst sind, nur selbst etwas an ihrer Lebenssituation ändern zu können anstatt auf Hilfe von außen zu warten.

Fazit

Um den definitorischen Schwierigkeiten zu begegnen [45][46], haben wir uns dazu entschlossen das Konzept der Solidarischen Ökonomie anhand des brasilianischen Beispiels zu beschreiben. Inwieweit dieses spezielle Beispiel das wenig greifbare Konzept der Solidarischen Ökonomie insgesamt widerspiegelt, ist ungewiss. Jedenfalls bedienen sich die meisten Konzepte, die mit dem Begriff Solidarische Ökonomie in Verbindung gebracht werden, ähnlicher Instrumente. Eines dieser Instrumente – die Regionalwährung – wird von uns detailliert beschrieben. In dieser Beschreibung wird ebenfalls auf die erhebliche Rolle soziale Kontrolle hingewiesen, die in unseren Augen ein zentraler Bestandteil der Solidarischen Ökonomie in dieser Form ist. In diesem Kontext muss die Frage gestellt werden, ob sich die Personen ohne den Druck der Armut diesem System aussetzen würden. Darüber hinaus gibt es diverse kulturelle Einflüsse, die eine Übertragbarkeit des Konzepts eventuell schwierig gestalten würden. So könnte es eine Rolle spielen, ob eine Gesellschaft prinzipiell eher kollektivistisch geprägt ist oder aber individualistisch – und somit gegenüber sozialer Kontrolle weniger Akzeptanz aufbringt [47].

Darüber hinaus ist auch die Verbindung zur Postwachstumsökonomieinteressant. In Deutschland stehen bei Projekten, die mit dem Begriff der Solidarischen Ökonomie in Verbindung gebracht werden, öfter Ideologien im Mittelpunkt und weniger der (unmittelbare) eigene Vorteil. Dies lässt sich ggf. darauf zurückführen, dass die Armut in Lateinamerika bzw. in Brasilien noch stärker materiell geprägt ist als in dem vergleichsweise reichen Deutschland. Hierzulande ist dagegen eine materielle Grundversorgung prinzipiell gesichert, nichtsdestotrotz hilft diese nicht gegen die Form der sozialkulturellen Armut, bei der Bevölkerungsgruppen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden.

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass eine differenzierte und abgrenzende Betrachtung des Begriffs aufgrund der Unschärfe der Definition notwendig ist. Ist diese Abgrenzung gemacht, können interessante Projekte - wie die Wohnprojekte der Stiftung trias oder die Wassergenossenschaft von Schönstadt-Schwarzenborn - betrachtet werden, um einen alternativen Weg abseits des herkömmlichen Wirtschaftssystems und der reinen Marktlogik aufzuzeigen.

Einzelnachweise

Literatur

Acquati, G. (2008): Die Soziale Solidarisch Ökonomie – Internationale Erfahrungen und Zusammenarbeit, In: Giegold, S.; Embshoff, D. (Hrsg.): Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, VSA-Verlag, Hamburg, S.146-148.

Alves de Oliveira, R.; Bayer, K.; Uriona, V. (2008): Solidarische Ökonomie und Soziale Bewegungen – Anregungen aus Lateinamerika. In: Giegold, S.; Embshoff, D. (Hrsg.): Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, VSA-Verlag, Hamburg, S. 155-158.

Bierhoff, O. (2008): Aneignung und Enteignung, In: Giegold, S.; Embshoff, D. (2008): Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, VSA-Verlag, Hamburg, S. 124-126.

Brunetti, A. (2009): Volkswirtschaftslehre, Eine Einführung für die Schweiz. hep verlag ag.

FEBS - Fórum Brasileiro de Economia Solidária (2016): O que é o FBES. Online [1] (abgerufen am 05.08.2016).

Giegold, S.; Embshoff, D. (2008): Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, VSA-Verlag, Hamburg.

Gubitzer, L. (1989): Geschichte der Selbstverwaltung, AG SPAK Publikationen, München.

Habermann, F. (2004): Aus er Not eine andere Welt: gelebter Widerstand in Argentinien, Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus.

Hofstede, G. (2004): Cultures and Organizations - Software of the Mind: Intercultural Cooperation and its Importance for Survival: Software of the Mind, Mcgraw-Hill Publ.Comp, Maastricht.

Instituto Banco Palmas (2016a): O que é um Banco Comunitário. Online [2] (abgerufen am 06.08.2016).

Instituto Banco Palmas (2016b): A (r)evolução das Moedas Sociais: Do Palmacard ao E-dinheiro. Online [3] (abgerufen am 06.08.2016).

Instituto Banco Palmas (2016c): Como Implantar um Banco Comunitário. Online [4] (abgerufen am 06.08.2016).

Instituto Banco Palmas (2016d): Projeto ELAS. Online [5] (abgerufen am 06.08.2016).

Meyer, C.; Leal, L. (2013): Community Development Banks: Enabling Access to Finance for Poor Communities. 17.09.2013. Online [6] (abgerufen am 05.08.2016).

Mittendrein, L. (2013): Solidarität ist alles, was uns bleibt – Solidarische Ökonomie in der griechischen Krise, AG SPAK Bücher, Neu-Ulm.

Notz, G. (2011): Theorien des alternativen Wirtschaftens – Fenster in eine andere Welt, Schmetterling Verlag, Stuttgart.

Paech, N. (2009): Die Postwachstumsökonomie – ein Vademecum, in: Zeitschrift für Sozialökonomie (ZfSÖ) 46/160-161, S. 28-31.

Paech, N. (2008): Regionalwährungen als Bausteine einer Postwachstumsökonomie, in: Zeitschrift für Sozialökonomie (ZfSÖ) 45/158-159, S. 10-19.

Singer, P. (2008): Die Solidarische Ökonomie in Brasilien. In Giegold, S.; Embshoff, D. (Hrsg.): Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, VSA-Verlag, Hamburg, S. 152-154.

Singer, P. (2014): Dez anos de Secretaria Nacional de Economia Solidária (SENAES). Mercado de trabalho, Feb. 2014, Nr. 56, S. 89-93.

Singer, P. (2016): The Solidarity Economy: An Interview with Paul Singer. 13.02.2016. Online [7] (abgerufen am 06.08.2016).

Tranow, U. (2007): Solidarität: soziologische Perspektiven und Konzepte, Verlag Dr. Müller, Saarbrücken.

Voß, E. (2015): Wegweiser Solidarische Ökonomie: Anders Wirtschaften ist möglich!, AG SPAK Bücher, Neu-Ulm, 2. Auflage.

World Social Forum (2016): About the World Social Forum. Online [8] (abgerufen am 05.08.2016).

Uriona, V. (2007): Solidarische Ökonomie in Argentinien nach der Krise von 2001, kassel university press GmbH, Kassel.

  1. vgl. Mittendrein 2013, 23
  2. vgl. Embshoff & Giegold 2008, 12
  3. vgl. Mittendrein 2013, 14
  4. vgl. Embshoff & Giegold 2008, 12
  5. vgl. ebd.
  6. vgl. ebd.
  7. vgl. Voß 2015, 16f
  8. Acquati 2008, 147
  9. Uriona 2007, 33
  10. Habermann 2004, 42f.
  11. vgl. Bierhoff 2008, 125f
  12. Embshoff & Giegold 2008, 12f
  13. Gubitzer 1989, 15
  14. Tranow 2007, 61
  15. vgl. Embshoff & Giogold 2008 12f
  16. vgl. Voß 2015, 32f
  17. Acquati 2008, 148
  18. Mittendrein 2013, 15f
  19. Gubitzer 1989, 152f
  20. Mittendrein 2013, 16
  21. Notz 2011, 47
  22. Mittendrein 2013, 17
  23. Notz 2011, 38f
  24. Mittendrein 2013, 19
  25. Notz 2011, 54f
  26. Mittendrein 2013, 20
  27. vgl. Mittendrein 2013, 22
  28. Singer 2008, 153, 156
  29. vgl. FEBS - Fórum Brasileiro de Economia Solidária, 2016
  30. vgl. World Social Forum, 2016
  31. vgl. Singer, 2014
  32. Alves de Oliveira et. al 2008, 156
  33. vgl. Instituto Banco Palmas, 2016
  34. vgl. Instituto Banco Palmas, 2016a
  35. vgl. Instituto Banco Palmas, 2016a
  36. vgl. Singer 2014
  37. Instituto Banco Palmas, 2016c
  38. vgl. Meyer & Leal 2013
  39. Instituto Banco Palmas 2016b
  40. Instituto Banco Palmas 2016c
  41. Instituto Banco Palmas 2016d
  42. vgl. Instituto Banco Palmas 2016a
  43. vgl. Paech 2008
  44. vgl. Brunetti 2009
  45. vgl. Mittendrein 2013, 23
  46. vgl. Embshoff & Giegold 2008, 12
  47. vgl. Hofstede 2004