Sensitivitätstraining

Aus Personal_und_Führung
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Das Sensitivitätstraining richtet sich auf gruppendynamische Prozesse und die Entwicklung interpersoneller Fähigkeiten. Diese Prozesse werden auch als Arbeit in einer Selbsterfahrungsgruppe bezeichnet (T-Gruppe). Es „zentriert sich auf die aktuellen Vorgänge in einer Gruppe und in den einzelnen Teilnehmern, um den Mitgliedern Erkenntnisse über sich selbst und ihr Verhalten in Gruppen zu ermöglichen“ [1]. Man spricht hierbei auch von der Anwendung des „Hier-und-Jetzt“ Prinzips, eine Konzentration auf das aktuelle Geschehen und nicht auf vergangene z.B. betriebliche Probleme. Der Schwerpunkt liegt auf den individuellen Erlebens- und Verhaltensprozessen. Je nach Zielsetzung geht es um Einstellungsänderungen, Verhaltensänderungen oder sogar um Persönlichkeitsveränderungen. Während der Trainer im üblichen Sprachgebrauch als aktiver Entscheider auftritt, nimmt er bei dem Sensitivitätstraining eher die Funktion eines „teilnehmenden Beobachters“ ein.

Abgrenzung

Der Begriff Sensitivitätstraining wird im heutigen Sprachgebrauch oft als Synonym für diverse Anwendungsformen gebraucht. Beispielsweise finden sich im Bereich der Organisationsentwicklung, im speziellen der Teamentwicklung, ähnliche Verfahren und Methoden wie sie bei gruppendynamischen T-Gruppen Trainings angewendet werden. Aber auch sehr ferne Bereiche wie z.B. die Esoterik nutzen Methoden des Sensitivitätstrainings. Die Esoterik zielt bspw. darauf ab, die Wahrnehmung des Individuums zu schärfen, findet oft in einer Gruppenatmosphäre statt, löst gemeinsame Aufgaben unter Beobachtung oder Leitung einer neutralen Person und beinhaltet Feedbackprozesse zur Reflektion des eigenen Verhaltens. Dennoch handelt es sich sowohl bei Teamentwicklung als auch bei der Esoterik nicht um eine T-Gruppe im gruppendynamischen Sinn.

Historische Entwicklung

Kurt Lewin (1890-1947)

Die ersten bedeutsamen Erkenntnisse über das Sensitivitätstraining erfolgten im Rahmen sozialpsychologischer Experimente. Diese wurden 1936 von Kurt Lewin und Ronald Lippitt durchgeführt. Sie untersuchten unter anderem die Auswirkungen von Führungsstilen auf die Gruppenatmosphäre in dem sie das Verhalten der Gruppenmitglieder beobachteten und analysierten.

Die weiterführenden Entwicklungen erfolgten, so jedenfalls die Auffassung einiger Autoren, eher durch einen Zufall. Während einer Konferenz in Bethel (USA) im Jahr 1947 diskutierten Führungskräfte der Verwaltung über die Umsetzung eines neuen Gesetzes. Anschließend sollte unter Ausschluss der eigentlichen Teilnehmer eine Diskussionsrunde zwischen den Veranstaltern erfolgen. Da diese jedoch anwesend sein wollten, wurden zum ersten Mal gruppendynamische Prozesse von Beobachtern (die Veranstalter) und Teilnehmern gemeinsam diskutiert. Dadurch entstand die Idee eines gruppendynamischen Verfahrens, in dem man Prozesse erlernen und sein eigenes Verhalten in einer Gruppe reflektieren kann.

Eine formale organisatorische Struktur entstand durch die Gründung des "National Training Laboratory in Group Development" (später kurz "National Training Laboratory" oder NTL). Eine feste Etablierung des Sensitivitätstrainings als Teil der Organisationsentwicklung und anerkannte Forschungsmethode erfolgte ab Mitte 1970. In dieser Zeit erfolgte auch eine zunehmende Professionalisierung durch die Ausbildung qualifizierter Trainer. Um den relativ hohen fachlichen Hürden gerecht zu werden, wurde um 1980 ein Curriculum mit dem Namen “Berufsbegleitende Fortbildung in der Leitung von Gruppen” entwickelt [2].

In den darauffolgenden Jahren erfolgte eine zunehmende Spezialisierung und Differenzierung des Ausbildungsangebotes. Die Gruppenfortbildungen entwickelten Schwerpunkte wie zum Beispiel die Fokussierung auf die Kultur oder der Stil der bestimmten Unternehmung. Ebenso erfolgte eine methodische Ausdifferenzierung. Es wurden Ansätze aus dem Bereich der Psychoanalyse genutzt, in denen eher abstinent und prozessorientiert gearbeitet wird. Hier nimmt der Trainer eine beobachtende Rolle ein, die nur durch gelegentliche Interventionen unterbrochen werden, in denen der Trainer versucht, die Gruppenteilnehmer durch den Prozess der Bewusstseinsschaffung zu führen. (Siehe „Vorgehen“) Andere Ansätze stehen der humanistischen Psychologie näher und legen einen Schwerpunkt auf die Persönlichkeitsentwicklung, wieder andere verbinden die Gruppendynamik mit verschiedenen Aspekten der Systemtheorie.

Formen des Sensitivitätstrainings

Abhängig von der Zusammenstellung von T-Gruppen und der daraus folgenden Beziehung, in der sich die Teilnehmer zu Beginn des Sensitivitätstrainings zueinander befinden, wird in der Literatur zwischen verschiedenen Formen unterschieden. Eine als Stranger Lab bezeichnete T-Gruppe besteht aus einzelnen Mitgliedern, die einander völlig unbekannt sind. Bei einem Cluster Lab bestehen hingegen Untergruppen von Personen, die sich bekannt sind, während die einzelnen Cluster untereinander keine Beziehung zueinander haben. Ein Family Lab beschreibt eine Trainingsformation, in der sich alle Teilnehmer beispielsweise aus einer Unternehmensabteilung kennen. Eine weitere Variante beschreibt das Cousin Lab. Hier stehen die einzelnen Mitglieder zwar in einer Beziehung zueinander, sind sich jedoch nicht zwangsweise bekannt. Ein Beispiel hierfür sind Mitglieder einer Organisation, die keine direkte Arbeitsbeziehung miteinander haben.

Andere Gestaltungsparameter können die Art der Intervention des Trainers sein. Dieser kann sich entweder ganz heraushalten oder sehr dominant das Gruppengeschehen beeinflussen. Weiterhin kann die Dauer eines Sensitivitätstrainings variieren. Ausdifferenzierungen, neben der Art der Teilnehmer, dem Trainer und der Dauer sind durchaus denkbar und kommen in der Praxis häufig vor.

Ziele und Wirkungen

Das Ziel des Sensitivitätstrainings ist es, gruppendynamische Prozesse, die bisher unbewusst von den Teilnehmern inszeniert und vollzogen wurden, in das Bewusstsein zu heben und somit kommunizierbar zu machen. Die Teilnehmer sollen dafür sensibilisiert werden, welche Auswirkungen, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer Gruppenmitglieder auf die Gruppe haben. Die Gruppenmitglieder lernen gruppendynamische Prozesse zu verstehen und ungewünschte Verhaltensweisen in der Gruppe zu erkennen und zu besprechen. Dies kann bei Teilnehmern zu einer Veränderung in der Einstellung, im Verhalten und der Persönlichkeit führen.

Vorgehen

Das Gruppendynamische Arbeitsmodell mit drei Dimensionen: Macht, Zugehörigkeit und Intimität (Quelle: Antons 2004)

Im Mittelpunkt des Sensitivitätstrainings steht das Erleben im “Hier-und-Jetzt”. „Die Gegenwart gilt als die einzige reale Zeit in dem Sinne, als sie unmittelbar erlebt wird und Handeln nur in der Gegenwart stattfindet.“[3] Im Gegensatz zum archäologischen Interesse der Psychoanalyse, versucht das Sensitivitätstraining nicht, die historischen Hintergründe des individuellen Verhaltens der Gruppenmitglieder zu identifizieren und zu analysieren. Ziel ist das persönliche Erleben des innerpersönlichen und zwischenmenschlichen Geschehens in der Gruppe (Beziehungsebene). Was im Hier-und-Jetzt dem Bewusstsein zugänglich wird, ist auch der Veränderung zugänglich (Paradoxe Theorie der Veränderung). Die Ordnung auf der Beziehungsebene wird innerhalb der drei Grunddimensionen des Gruppendynamischen Arbeitsmodells geregelt: Macht, Intimität und Zugehörigkeit. Die Ausprägungen dieser drei Dimensionen können anhand der Interaktionsmuster innerhalb der Gruppe beobachtet werden (Wer reagiert auf wen? Welche Äußerungen werden eingeschlossen? Auf wen bezieht man sich? Wer wird unterstützt? Wer findet keine Beachtung?). Macht, Intimität und Zugehörigkeit innerhalb der Gruppe werden in den meisten Fällen unbewusst von den Mitgliedern verhandelt. Es ist das Ziel des Sensitivitätstrainings, diesen Prozess aus der Latenz herauszuholen und somit sichtbar und gestaltbar zu machen.

Um diesen Prozess beobachtbar zu machen, versucht der Trainer eine gruppendynamische Anfangssituation herzustellen. Mögliche Maßnahmen sind hier beispielsweise die zeitweilige Beibehaltung der Anonymität zwischen den Teilnehmern und dem Trainer, oder eine bewusste Abstinenz von Leitung durch den Trainer. Hierdurch soll die Antizipierbarkeit der Reaktionen auf das eigene Handeln durch die Teilnehmer reduziert und ein innerer Notstand ausgelöst werden. Dies führt zur Aufnahme von gruppendynamischen Prozessen, die zu einer erneuten Verhandlung von Zugehörigkeit, Intimität und Macht führen.

Dieser gruppendynamische Prozess wird nun von den Teilnehmern erlebt und reflektiert. Der Trainer nimmt hier eine beobachtende Rolle ein. Die Teilnehmer werden durch verschiedene Maßnahmen dazu angehalten, über das eigene Verhalten und jenes der Gruppenmitglieder zu diskutieren. Gegebenenfalls kann der Trainer in Form von Interventionen eingreifen und das Training entsprechend lenken.

Diese Methoden finden in der Praxis unter anderem bei Rollenspielen statt, wobei die Teilnehmer aufgefordert werden, sich als Gruppe zu formieren und gemeinsam eine bestimmte Aufgabe zu erledigen. So könnte eine Gruppe Maschinenbauer beispielsweise beauftragt werden, die Gründung einer Grußkartenfirma gemeinsam zu planen und fiktiv umzusetzen. Hierbei werden die Teilnehmer gezwungen ihre alten Rollen abzulegen und in der neugeschaffenen fiktiven Gruppe neu zu verhandeln. Der einzelne Teilnehmer kann hierbei beobachten, welchen Effekt seine Persönlichkeit auf das Gruppenverhalten und vis-à-vis die gruppendynamischen Prozesse auf sein Gefühlsleben haben. Hinzu kommt hierbei die Reflektion in der Gruppe. Zu unterscheiden ist hier, ob das Feedback an den Teilnehmer aus der Gruppe selbst, oder durch einen externen Beobachter kommt. Auch der Trainer kann durch gezielte Interventionen während oder nach dem Rollenspiel den Prozess der Bewusstseinsschaffung aktiv fördern.

Anwendungsbereiche

Sensitivitätstraining findet unter anderem Anwendung bei Fortbildungen für Mitarbeiter mit Personalverantwortung oder Fortbildungen von Gruppen, bei denen eine effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit von großer Bedeutung ist.

Das Sensitivitätstraining ist nicht anwendbar bei tiefen psychologischen Konflikten oder Problemen wie beispielsweise Zwangsstörungen. Weiterhin ist zu beachten, dass das Sensitivitätstraining zeitversetzt wirkt. Eine unmittelbare Wirkung wird also nicht erreicht. Dadurch ist Sensitivitätstraining nicht für ad-hoc Problematiken als Lösung geeignet.

Grenzen und Kritik

Ein Problem bei Sensitivitätstrainings liegt in der schweren Messbarkeit der Erfolge. Typischerweise misst man solche Erfolge mit einem objektiven Außenkriterium. Bei psychotherapeutischen Maßnahmen ist dies z.B. eine Angststörung. Wenn die Angst des Patienten eliminiert ist, dann ist der Patient als geheilt und die eingesetzte Maßnahme (therapeutische Behandlung) als erfolgreich anzusehen. Ein solches objektives Kriterium kann bei Sensitivitätstrainings nur schwer festgelegt werden. Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen einiger Forscher, die einen Wirkungszusammenhang zwischen Sensitivitätstraining und Erfolg untersuchten. Ein klarer Zusammenhang konnte nicht festgestellt werden oder die Ergebnisse waren widersprüchlich oder nicht repräsentativ.

Literatur

Antons, K. (1998). Praxis der Gruppendynamik. Übungen und Techniken. 7. Aufl. Göttingen ;, Bern ;, Toronto ;, Seattle: Hogrefe, Verl. für Psychologie. Online verfügbar unter http://www.worldcat.org/oclc/75908155.

Antons, K.; Amann, A.; Clausen, G.; König, O.; Schattenhofer, K (2004). Gruppenprozesse verstehen: Gruppendynamische Forschung in der Praxis. Wiesbaden: VS Verlag.

Böhm, J. (1981). Einführung in die Organisationsentwicklung. Instrumente, Strategien, Erfolgsbedingungen. Heidelberg: I.H. Sauer-Verlag. Online verfügbar unter http://www.worldcat.org/oclc/49646295.

Bradford, L. P.; Gibb, J. R.; Benne, K. D. (1972). Gruppen training. T-Gruppentheorie und Laboratoriumsmethode. Stuttgart: Klett. Online verfügbar unter http://www.worldcat.org/oclc/65101585.

Rechtien, W. (2007). Angewandte Gruppendynamik. Ein Lehrbuch für Studierende und Praktiker. 4., vollst. überarb. Weinheim ;, Basel: Beltz, PVU. Online verfügbar unter http://www.worldcat.org/oclc/188265093.

Schmidbauer, W.; Ammon, G. (1973). Sensitivitätstraining und analytische Gruppendynamik. 2. Aufl. München: Piper. Online verfügbar unter http://www.worldcat.org/oclc/64955084.

Shaffer, John B. P. (1977). Handbuch der Gruppenmodelle. Gelnhausen, Berlin: Burckhardthaus-Verlag. Online verfügbar unter http://www.worldcat.org/oclc/614172670.

Quellen

[1] Rechtien, W (1999). Angewandte Gruppendynamik: Ein Lehrbuch für Studierende und Praktiker. Weinheim: Beltz PVU.

[2] Antons, K.; Amann, A.; Clausen, G.; König, O.; Schattenhofer, K (2004). Gruppenprozesse verstehen: Gruppendynamische Forschung in der Praxis. Wiesbaden: VS Verlag.

[3] Höll, K. (2000). Hier-und-Jetzt-Prinzip. In G. Stumm & A. Pritz, eds. Wörterbuch der Psychotherapie. Wien: Springer, S. 275. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-211-99131-2_739.