Nicht-reaktive Verfahren zur Identifizierung von Veränderungsbedarf

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Nicht-reaktive Verfahren sind Erhebungsmethoden, die nicht auf das Untersuchungsobjekt wirken und damit Ergebnisse nicht verfälschen. Somit geben nicht-reaktive Verfahren die Wirklichkeit originalgetreuer wieder und es kommt darauf basierend zu einer besseren Einschätzung der Situation. Daher bieten sich nicht-reaktive Verfahren zur Identifikation von Veränderungsbedarf in Organisationen an.

Veränderungsbedarf

Als Veränderungsbedarf wird im Allgemeinen die Notwendigkeit Veränderungen erwirken zu müssen betrachtet. Aus Fehlentwicklungen in dem Inneren sowie Veränderungen der äußeren Umwelt erwächst ein Veränderungsbedarf in Organisationen. Als interne Faktoren können beispielsweise kalkulatorische Fehlplanungen auf Grund manipulierter Geschäftszahlen gelten. Technologische Fortschritte der Umwelt oder Änderungen des Kundenbedarfs sind hingegen Faktoren die extern einen Veränderungsbedarf der Organisation begründen.[1]

5 Phasen-Modell: Vom Ereignis bis zur Veränderung

Das 5 Phasen-Modell zeigt im Bereich des Veränderungsbedarfs die Entwicklungsstufen, vom Erkennen einer Fehlentwicklung sowie äußeren Entwicklungen bis hin zum Beginn einer Veränderung auf.[2] Die einzelnen Phasen werden mit Hilfe der folgenden Grafik und der Ausführungen deutlich gemacht. Dieser Artikel befasst sich ausschließlich mit der Phase „Erkennung und Aufnahme.“

Prozesskette mit quelle.png

Ereignis: Das Ereignis ist die Ursache eines Veränderungsbedarfs. Eine bedrohliche Kostensteigerung kann z. B. ein Ereignis darstellen.
Erkennung und Aufnahme: Diese Phase beinhaltet die Identifizierung des Veränderungsproblems.
Bewertung: Eine Untersuchung und Diagnose des Veränderungsproblems findet nach Erkennung und Aufnahme des Sachverhalts statt.
Zuweisung von Verantwortlichen: Nach eingehender Untersuchung werden Verantwortliche bestimmt, die sich mit der Lösung des Problems auseinandersetzen.
Start der Veränderung: Mit Hilfe der vorangegangenen Prozessschritte kann nun die Veränderung innerhalb der Organisation begonnen werden.

Reaktivität

Die Reaktion eines Untersuchungsobjektes auf eine Erhebungssituation wird im Allgemeinen als Reaktivität verstanden. Diese wird hervorgerufen einerseits durch das Bewusstsein des UntersuchungsobjektesTeil einer Untersuchung zu sein oder andererseits durch die Wirkung der Methode auf den Menschen. So reagieren Probanden in einer Befragung häufig auf die Anwesenheit des Befragenden mit sozial erwünschten Antworten, wodurch die Untersuchungsergebnisse nicht wirklichkeitsgetreu aufgenommen werden.[3]

Unterscheidung reaktiver und nicht-reaktiver Verfahren:

Reaktive Verfahren: Das Untersuchungsobjekt ist vom Erhebungsverfahren in seinem Verhalten beeinflusst.
Nicht-reaktive Verfahren: Das Untersuchungsobjekt ist nicht vom Erhebungsverfahren in seinem Verhalten beeinflusst.[4]

Nicht-reaktive Verfahren zur Identifizierung von Veränderungsbedarf

Die nicht-reaktiven Erhebungsmethoden zur Identifizierung von Veränderungsbedarf werden in primäre und sekundäre Verfahren unterschieden. Die primären Verfahren erheben Daten ohne hierbei verfälschend auf diese einzuwirken. Insbesondere zählen hierzu spezifisch konzipierte Feldexperimente und nicht-teilnehmende Beobachtungen. In den sekundären Verfahren werden bereits vorhandene Daten analysiert.[5] Dazu zählen Daten aus Verhaltensspuren, die Analyse von prozessproduzierten Daten, sowie Inhaltsanalysen. Die einzelnen nicht-reaktiven Verfahren können jedoch nicht individuell zur Identifizierung von Veränderungsbedarf beitragen, sondern meist lediglich Indizien aufzeigen, die mit anderen Erhebungsmethoden zu ergänzen sind.

Primäre Verfahren

Nicht-teilnehmende Beobachtung

Die nicht-teilnehmende oder unaufdringliche Beobachtung ist die Wahrnehmung von Objekten oder Vorgängen in der Natur. Bei dieser ist sicherzustellen, dass das Untersuchungsobjekt nichts von der Beobachtung erfährt und somit ihr Verhalten von dieser nicht beeinflusst wird. Bei der Anwendung des Verfahrens der nicht-teilnehmenden Beobachtung zur Identifizierung von Veränderungsbedarf sind die Betriebsabläufe zu beobachten, ohne dass der normale Hergang beeinflusst wird.[6] Die gemachten Beobachtungen können daraufhin auf unerwünschte Abweichungen in den Betriebsabläufen untersucht werden. Nach der Untersuchung der Abweichungen ist es möglich eine Bewertung vorzunehmen, inwiefern die gewonnenen Indizien Veränderungsbedarf darstellen. Im alltäglichen Betriebsablauf kann die nicht-teilnehmende Beobachtung beispielsweise durch instruierte Kunden geschehen, die die Qualität eines Beratungsgespräches in einer Bank beobachten und unerwünschte Abweichungen auf Veränderungsbedarf bewerten.

Nicht-reaktive Feldexperimente

Nicht-reaktive Feldexperimente gehen meist mit einer unaufdringlichen Beobachtung einher. Bei diesen Beobachtungen wird jedoch die natürliche Umgebung zu einem Experiment verändert. Wenn dieses Verfahren als Hilfsmittel zu der Identifizierung von Veränderungsbedarf herangezogen wird, ist sicherzustellen, dass die Umgebung der Mitarbeiter in einer unauffälligen Art und Weise verändert wird.[7] Somit kann idealerweise eine Einflussnahme auf die Mitarbeiter in dem zu beobachtenden Betriebsablauf ausgeschlossen werden. Aus den Beobachtungen der nicht-reaktiven Feldexperimente können wiederum Unregelmäßigkeiten in den Betriebsabläufen als Indizien für Veränderungsbedarf bewertet werden. Zum Beispiel können in Arbeitsräumen persönliche Wertgegenstände platziert werden, um den Umgang der Mitarbeiter mit Wertgegenständen analysieren zu können. Häufiges Verschwinden von platzierten Wertgegenständen ist hierbei ein erstes Indiz für Veränderungsbedarf.

Sekundäre Verfahren

Verhaltensspuren

Die sekundären Verfahren bestehen hauptsächlich in der Analyse von Verhaltensspuren. Diese werden in der Soziologie in Abnutzungsmessungen und in Ablagerungsmessungen unterteilt.[8]

Abnutzungsmessungen

Bei Abnutzungsmessungen wird beispielsweise in Museen erkannt, welches Ausstellungsobjekt am beliebtesten ist, indem die Abnutzung der Teppichfliesen um die Objekte untersucht wird.[9] Je abgenutzter, desto höher ist vermutlich das Interesse am ausgestellten Objekt. Um in einem Unternehmen Abnutzungsmessungen zur Identifizierung von Veränderungsbedarf zu nutzen, wäre es notwendig jedwede vorherigen physischen Zustände der Einrichtung zu messen. Nach Abschluss des Untersuchungszeitraumes müssten diese Messungen erneut vorgenommen werden, um Unterschiede festzustellen. Die Unterschiede zu den vorherigen Messungen stellen dann Abnutzungen dar. So lassen sich die Reifenabnutzungen von Firmenwagen protokollieren, die Rückschlüsse auf das Fahrverhalten der Mitarbeiter erlauben. Eine sportliche, unangepasste Fahrweise ist bei stark abgefahrenen Reifen denkbar. Diese Abnutzungen lassen jedoch nur schwer auf Veränderungsbedarf schließen. Sie können lediglich als Indizien für weitere Untersuchungen zum Veränderungsbedarf herangezogen werden.

Ablagerungsspuren

Ablagerungsmessungen hingegen können im Unternehmen eher auf Veränderungsbedarf hindeuten. Ablagerungen sind jene Dinge, die im alltäglichen Betriebsablauf zurückgelassen werden. So können diese beispielsweise häufig in betrieblichen Abfällen zu finden sein. Eine Untersuchung dieser Ablagerungsspuren kann Indizien zu Veränderungsbedarf liefern, wenn Teile der Ablagerungsspuren nicht mit den gesetzten Idealen bzw. Erwartungen des Unternehmens übereinstimmen. Beispielsweise kann der wiederholte Fund leerer Pizzakartons im Abfall ein Indiz für veränderte Essensgewohnheiten der Mitarbeiter sein. Weitere Untersuchungen können mehr Indizien dafür zeigen, dass ein Veränderungsbedarf in Bezug auf die Wahrnehmung der Mittagspausen vorherrscht. Eine weitere Untersuchung kann darin bestehen, die digitalen Verhaltensspuren in Form von Türöffnungskarten zu analysieren.[10] Wenn hierbei festgestellt wird, dass andere Mitarbeiter den Betrieb ohne Kantine während der Mittagspausen nicht verlassen, kann dies ein weiteres Indiz für die Nicht-Wahrnehmung der Mittagspausen bedeuten. Dies könnte der Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen des Veränderungsbedarfs im Themenbereich Arbeitsbelastung sein.

Sekundäranalyse prozessproduzierter Daten

Die Sekundäranalyse prozessproduzierter Daten findet durch die Auswertung jedweder Daten, die bei Prozessen im Betriebsablauf entstehen, statt.[11] Dabei können beispielsweise die Krankheitstage aus Personalakten entnommen werden, welche möglicherweise als Indiz für die Gesundheit der Mitarbeiter und damit möglichen Veränderungsbedarf genommen werden können. Die Sekundäranalyse prozessproduzierter Daten schließt auch das Controlling mit ein. Dabei werden Daten aus dem Rechungswesen zu Kennzahlen verdichtet, wodurch ein Überblick über das eigene Unternehmen gewonnen werden kann. Neben der Möglichkeit einen Zeit- und Entwicklungsvergleich durchzuführen, kann das eigene Unternehmen mit anderen in der Branche verglichen werden. Es kann zudem analysiert werden inwiefern gesetzte Ziele und Normen erreicht wurden und somit auf Veränderungsbedarf in der Betriebs- und Projektdurchführung hindeuten. Darüber hinaus sind klassische Rentabilitätsbetrachtungen einzelner Unternehmenseinheiten durch eine Analyse prozessproduzierter Kennzahlen möglich. Hervorzuheben sind hier die ROI oder Ebitda-Analysen. Des Weiteren kann eine Cashflow Analyse als Frühindikator für Veränderungsbedarf herangezogen werden. Das Controlling bietet eine Vielzahl von Instrumenten zur Erkennung von Veränderungsbedarf.[12]

Inhaltsanalyse

Die Inhaltsanalyse befasst sich mit der Analyse und Auswertung von Inhalten, welche in verschiedener Form vorliegen.[13] In Bezug auf Organisationen liegen folgende Informationsquellen vor:

  • Externe Analystenberichte
  • Presseberichte
  • Externe Unternehmensbewertungen-/berichte, auch als Blogs im Internet
  • Unabhängig von der Inhaltsanalyse zuvor erstellte interne Unternehmensanalysen/-berichte
  • Explizites und implizites Wissen, der mit der Analyse betrauten Mitarbeiter/Manager

Diese Informationen werden im Rahmen der Inhaltsanalyse von einem Mitarbeiter- und Managementzirkel systematisch analysiert, um einen ggf. vorliegenden Veränderungsbedarf zu identifizieren und Rückschlüsse auf diesen zu ziehen.[14] Zur Bewahrung einer weitgehenden Nicht-Reaktivität der Inhaltsanalyse ist es erforderlich, dass der mit der Analyse betraute Zirkel nicht Teil der zu untersuchenden Einheit ist. Um das Kriterium der nicht-Reaktivität zu erfüllen, müssen die Inhalte nicht-reaktiv erstellt worden sein. Dieses ist jedoch bei Inhalten, die unter Mitwirkung des Untersuchungsobjektes erstellt wurden, nicht gegeben. Daher scheiden z. B. zur Untersuchung einer Geschäftssparte eigene Publikationen und Einschätzungen eben jener Sparte aus und es müssen externe Publikationen und Einschätzungen herangezogen werden. Da Organisationen aus miteinander verknüpften internen und externen Systemen bestehen und einer Vielzahl von inneren sowie äußeren Einflüssen unterliegen, ist eine systematische Herangehensweise bei der Inhaltsanalyse unabdingbar.[15] Über das Ziel der Identifikation des Veränderungsbedarfs an sich hinaus, sind zu einer geeigneten Bewertung des Veränderungsbedarfs weitere Rückschlüsse, wie • Ausmaß des Veränderungsbedarfs • Schlüsselfaktoren • Abhängigkeiten • Beziehungen • etc. erforderlich. Darauf basierend wurden verschiedene Methoden der Inhaltsanalyse entwickelt, die ausschließlich einzelne Aspekte untersuchen, wie Beziehungen, Input-Output-Zusammenhänge, Prozesse etc. Aufgrund dieser Konzentration auf einzelne Untersuchungsaspekte kommt es vor, dass erst in der Kombination der Unterschungsergebnisse konkret Veränderungsbedarf aufgezeigt wird.

Einzelnachweise

Literatur

  • Amrein, C. (2012): Business- und IT-Development : Grundlagen für das Business Engineering mit zahlreichen Beispielen, Aufgaben und Lösungen
  • Bungard, W., Lück, H.E. (1974): Forschungsartefakte und nicht-reaktive Meßverfahren.
  • Diekmann, A. (2009): Empirische Sozialforsdchung : Grundlagen,Methoden, Anwendungen.
  • Gräfer, H. (2008): Bilanzanalyse : traditionelle Kennzahlenanalyse des Einzeljahresabschlusses.
  • Paton, R.A., McCalman, J. (2008): Change management : a guide to effective implementation.
  • Universität München (2012): Reaktivität [WWW] Verfügbar unter: http://hermes.ifkw.uni-muenchen.de/demo/clic/self/davirt-demo-public/glossar_2000192.html [Zuletzt aufgerufen am 23.10.2012]
  • Webb, E.J., Campbell, D.T., Schwarz, R.D., Sechrest, L. (1975): Nichtreaktive Meßverfahren.
  • Weyers, S. (2008): Erhebungsmethoden [WWW] Verfügbar unter: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/weyerss/SoSe08_MeS/8Erhebungsmethoden.pdf [Zuletzt aufgerufen am 23.10.2012]
  • Amrein, C. (2012) S. 106 ff.
  • Amrein, C. (2012) S. 108
  • Universität München (2012)
  • Weyers, S. (2008) S. 6
  • Diekmann, A. (1997) S. 630 ff.
  • Bungard, W., Lück, H.E. (1974) S. 116
  • Diekmann, A. (2009) S. 630
  • Diekmann, A. (2009) S. 623 ff.
  • Webb, E.J., Campbell, D.T., Schwarz, R.D., Sechrest, L. (1975) S. 75 f.
  • Diekmann, A. (2009) S. 652
  • Diekmann, A. (2009) S. 653
  • Gräfer, H. (2008)
  • Weyers, S. (2008) S. 8 f.
  • Weyers, S. (2008) S. 41 ff.
  • Paton, R.A., McCalman, J. (2008) S. 137