Moralische Unsicherheit: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Reynolds, S. J. (2006).''' A Neurocognitive Model of the Ethical Decision-Making Process: Implications for Study and Practice. Journal of Applied Psychology 91(4), 737-48.
 
'''Reynolds, S. J. (2006).''' A Neurocognitive Model of the Ethical Decision-Making Process: Implications for Study and Practice. Journal of Applied Psychology 91(4), 737-48.
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= Einzelnachweise =

Version vom 29. Juli 2020, 18:38 Uhr

Als moralische Unsicherheit versteht man einen Zustand, in dem es keine Norm gibt, anhand derer moralisches beziehungsweise unmoralisches Verhalten gemessen werden kann. Sowohl die Charakterisierung, als auch die Auswirkungen einer Handlung sind auf moralischer Ebene unbekannt.

Phänomen

Begriffe

Unter Moral versteht man Handlungsprinzipien, welche die Gesamtheit von Werten und Normen einer Gesellschaft implizieren und einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit haben. Der Begriff kommt aus dem lateinischen und leitet sich von dem Wort mos ab, was so viel bedeutet wie Sitte, Gewohnheit oder Brauch. Bei der Moral geht es um die Frage: „Was soll ich tun?“ Es gibt verschiedene Ansätze, wie unser Moralempfinden bzw. unser moralisches Handeln entstehen: Kant (1785) war zum Beispiel der Ansicht, dass wir unsere Vernunft als Grundlage für die Beurteilung unseres moralischen Verhaltens nutzen sollten. Hume (1739) hingegen war der Ansicht, dass ein moralisches Urteil nicht nur durch den Prozess bewusster Argumentation zustande kommt, sondern dass es viel mehr aus einer emotionalen Reaktion heraus getroffen wird, die mit einer Handlung einhergeht. Die Ethik hingegen ist nicht wie die Moral eine Handlungskategorie, sondern eine Reflexionskategorie. Das bedeutet, dass es bei der Ethik nicht um die Handlungen selbst geht, sondern viel mehr um die Reflexion der Kriterien über moralisches oder unmoralisches Verhalten [1]. Bei der Ethik lassen sich deontologische und teleologische Ansätze voneinander unterscheiden. Bei deontologischen Ansätzen (z.B. Kant) ist das Motiv der Handlung ausschlaggebend für die Bewertung, wohingegen bei teleologischen Ansätzen (z.B. Utilitarismus), das Ergebnis bzw. der Nutzen ausschlaggebend sind für die Bewertung einer Handlung sind [2]. Oft gründet sich das, was wir als moralisch ansehen, auf unseren gesellschaftlichen Werten und Normen. Werte dienen aus soziologischer Perspektive dazu, in der Gesellschaft das zu rechtfertigen, was ein gutes Zusammenleben ermöglicht [3]. Nach dem Top-down Ansatz leiten sich aus diesen Werten unsere Normen und somit auch unser Moralverständnis ab. Der Begriff Norm leitet sich von dem lateinischen Wort norma ab und bedeutet so viel wie “Regel”. Normen sind allgemein anerkannte Handlungsformen, mit denen alle Akteure der Gesellschaft gleichermaßen konform sind und diesen eine soziale Ordnungsfunktion zusprechen. Sie bilden ebenso den Rahmen dafür, was wir als moralisch oder unmoralisch ansehen. Das Thema der Moral und Ethik ist jedoch deutlich komplexer. Nicht alle Menschen verfügen über die gleichen ethischen und moralischen Maßstäbe. Abhängig von der moralischen Entwicklungsstufe können Menschen in der gleichen Situation unterschiedliche Schlüsse für die für sie richtige Handlungsweise ziehen.

Geschichtliche Zugänge

Es gibt verschiedene Ansätze, wie wir unser moralisches Urteil bilden. Hierzu zählen die rationalistischen Theorien (Kant), die sentimentalistischen Theorien (Hume) sowie solche, die versuchen, beide Ansätze zu vereinen. Die rationalistische Theorie wurde von Kohlberg (1963) [4] und seinem kognitiv-entwicklungsorientierten Ansatz erweitert. Nach Kohlberg gibt es vier Entwicklungsstufen der Moral, wobei nicht alle Menschen die höchste Stufe des moralischen Bewusstseins erreichen. In seinen Untersuchungen stellte er Menschen vor moralische Dilemmata. Hierbei ging es ihm nicht darum, für welche Lösung sich die Probanden entschieden, für ihn waren vielmehr die dahinterstehenden Begründungen relevant, da diese einen Aufschluss über die Denkfähigkeit der Probanden gaben. Nach Kohlberg gibt es drei Ebenen und sechs Stufen des moralischen Bewusstseins. Die erste Ebene, die präkonventionelle Ebene, umfasst 2 Stufen. Die erste Stufe des moralischen Bewusstseins ist die Orientierung an Gehorsam und Strafe, was bedeutet, dass das als “Gut” angesehen wird, was der Stärkere sagt. Nachfolgend handeln Individuen, die sich auf der zweiten Stufe des moralischen Bewusstseins befinden, nicht mehr rein aus Eigeninteresse, sondern erweitern ihre Perspektive, in dem sie das als “Gut” ansehen, was in beidseitigem Interesse geschieht. Auf der konventionellen Ebene, der zweiten Ebene, orientieren sich Akteure an personengebundener Zustimmung (3. Stufe) und ziehen hier somit eine gesellschaftliche Komponente hinzu. Es wird das als “Gut” erachtet, was bei anderen gut ankommt. Auf der vierten Stufe orientieren sich Akteure an Gesetz und Ordnung. Die meisten Menschen befinden sich auf der dritten oder vierten Stufe des moralischen Bewusstseins. Die Stufen der 3. Ebene, der postkonventionellen Ebene, sind deutlich schwerer und somit nur für wenige Menschen zu erreichen. Auf der fünften Stufe geht es um die Orientierung am Sozialvertrag. Hier wird das als “Gut” erachtet, was alle Beteiligten anerkennen können. Akteure erkennen, dass gut und schlecht bzw. richtig und falsch von Individuum zu Individuum unterschiedlich bewertet werden kann. Es geht in diesem Stadium weniger um Gesetze an sich, sondern um die dahinterstehende Logik. Die letzte Stufe der präkonventionellen Ebene sowie des moralischen Bewusstseins ist die Orientierung an universellen ethischen Prinzipien wie Kant sie forderte.

Veranschaulichung

Abhängig davon, wie Menschen mit (moralischen) Dilemmata umgehen, wird entschieden, auf welcher moralischen Entwicklungsstufe sie sich befinden. Ein eindrückliches Beispiel ist Kohlbergs berühmtes Heinz Dilemma. In dieser Geschichte geht es um einen Mann namens Heinz, dessen Frau todkrank ist. Sie benötigt dringend ein teures Medikament. Erhält sie dieses nicht, wird sie sterben. Trotz ausreichender Bemühungen möglichst viel Geld für das Medikament aufzubringen, bleibt es dennoch zu teuer. Heinz geht zum einzigen Apotheker, der dieses Medikament anbietet, und fragt, ob er das Medikament günstiger bekomme und den noch ausstehenden Betrag zu einem späteren Zeitpunkt zurückzahlen könne, da seine Frau sonst stirbt. Der Apotheker verneint, da die Herstellung des Medikaments sehr teuer sei.

Stufe 1: Pro: Heinz sollte das Medikament stehlen, da seine Frau vielleicht eine bedeutende Person ist (…) Contra: Heinz sollte es nicht stehlen, da er dafür ins Gefängnis kommen kann. Stufe 2: Pro: Heinz sollte das Medikament stehlen, weil seine Frau ihm eines Tages auch einen Gefallen tun könnte. Contra: Heinz sollte es nicht stehlen, wenn er seine Frau nicht liebt, denn dann wäre es die ganzen Schwierigkeiten nicht wert. Stufe 3: Pro: Heinz sollte das Medikament stehlen, selbst wenn er seine Frau nicht liebt oder es für einen Fremden ist, denn wir sollen bereit sein, anderen zu helfen. Contra: Heinz sollte es nicht stehlen, um einen guten Eindruck in der Gemeinschaft zu hinterlassen. Stufe 4: Pro: Heinz sollte das Medikament stehlen, weil Menschen zum Nutzen der Gesellschaft Verantwortung für andere übernehmen müssen. Contra: Man sollte das Gesetz achten, denn es würde zerstört, wenn die Bürger meinen, sie könnten es brechen, wenn sie nicht damit übereinstimmen. Stufe 5: Pro: Heinz sollte das Medikament stehlen, da das Recht auf Leben das Recht auf Eigentum verdrängt oder sogar übersteigt. Contra: Man sollte das Gesetz achten, weil das Gesetz die grundlegenden Rechte einzelner gegenüber anderen sichert, die diese übertreten.[5]

Wie das Heinz Dilemma zeigt, lässt sich menschliches Handeln nicht einfach in „richtig“ und „falsch“ einordnen. Die Frage „Was soll ich tun?“ ist oft nicht einfach zu beantworten, da es viele Faktoren gibt, die moralisches oder unmoralisches Handeln beeinflussen. Und nur weil Menschen über die Fähigkeit zum komplexen moralischen Denken verfügen bedeutet dies nicht automatisch, dass das reine Nachdenken über “richtig” und “falsch” auch zu moralischem Handeln führt. Das Abwägen der vermeintlich richtigen Handlung wird vor allem dann zu einer Herausforderung, wenn Menschen in eine bisher unbekannte Situation geraten und es kein vorgefertigtes Handlungsmuster gibt. Die mit einer Handlung einhergehenden Folgen sind somit unsicher.

Empirie

Verbreitung

Moralische Unsicherheit findet sich oft im organisatorischen Kontext in Verbindung mit Veränderungsprozessen [6]. Strukturelle Veränderungen können Unsicherheiten in Hinblick auf die Zukunft auslösen. Nicht selten kommen Ängste wie Status- oder Existenzangst auf. Angst ist ein natürlicher, evolutionärer Mechanismus, der eine überlebenssichernde Funktion hat, und dann ausgelöst wird, wenn eine Situation als bedrohlich eingestuft wird. Veränderung und Ungewissheit sind oft mit der Befürchtung verbunden, dass Schwierigkeiten und Aufwand entstehen und man das Vertraute und Sichere verlassen muss [7]. Mitarbeiter möchten sich in gewisser Weise einen Selektionsvorteil verschaffen und werden daher vor moralische Herausforderungen gestellt. Eine Mutaree Befragung (2020) von 235 Fach- und Führungskräften hat gezeigt, dass großer Druck in Unternehmen mit relativ geringen Erfolgschancen dazu führt, dass mit allen Mitteln gekämpft wird. Nur 53% der Befragten können bestätigen, dass ethische Grundsätze ihre Gültigkeit behalten. 50% sagen sogar, dass bestehende Normen für den Erfolg aufgeweicht werden und 28% geben an, dass das Thema Moral & Ethik schlicht ignoriert wird. Ein weiteres Problem ist, dass der Verstoß in 1/3 der Fälle folgenlos bleibt. Zudem mangele es in vor allem an Wertschätzung in Veränderungsprozessen (das gaben 72% an) gefolgt von einem Mangel an Fairness und Transparenz (jeweils 51%).

Determinanten

Es gibt viele Faktoren, die moralisches Handeln beeinflussen können. Beispielsweise können Unsicherheiten in Bezug auf moralisches Handeln dann eintreten, wenn eine Situation neu und unbekannt ist und es daher es kein erlerntes Handlungsmuster gibt. Auch ein normativer, sozialer Einfluss kann sich auf das moralische Verhalten auswirken, bspw. dann, wenn ein Mitarbeiter den Erwartungen seines Chefs gerecht werden möchte. Besonders die in Veränderungsprozessen auftretenden Determinanten Angst und Unsicherheit sowie Leistungs- und Erfolgsdruck können ebenfalls unmoralisches Verhalten begünstigen. Das Thema der Moral und ihrer Einflussfaktoren ist sehr komplex und dabei interdisziplinär. Oftmals werden im Rahmen dieser Komplexität die der Psychologie zuzuordnenden Persönlichkeitsfaktoren herangezogen. Die Persönlichkeitsmerkmale (Big Five) sind eng mit weiteren Einflussfaktoren, wie zum Beispiel der Schuldanfälligkeit und der Strafempfindlichkeit verknüpft. So sind Menschen, die eine hohe Ausprägung an Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit haben, eher anfällig dafür, Schuld zu empfinden. Das Gefühl von Schuld wiederum entsteht dann, wenn Menschen glauben, einem moralischen Standard nicht gerecht geworden zu sein [8]. Diese Erfahrung wirkt sich stark auf das Verhalten aus, indem sie die Wahrscheinlichkeit einer Handlung, die mit Schuld verbunden sein könnte, verringert. Schuld wird als "moralisches Gefühl" klassifiziert [9], weil Schuldgefühle mit dem intuitiven Gefühl verbunden sind, dass etwas moralisch falsch ist [10]. Menschen, die also weniger schuldanfällig sind, können eher zu unmoralischem Verhalten tendieren. Die Persönlichkeitsmerkmale Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit spielen also eine zentrale Rolle bei der moralischen Entscheidungsfindung. Während Schuld ein intrinsisches Risiko ist, ist Bestrafung ein extrinsisches Risiko, das mit unmoralischem Verhalten einhergehen kann. Behavioristische Theorien [11] betonen, dass Bestrafung das Auftreten der mit ihr verbundenen Handlung verringert. Die Befürchtung einer solchen Konsequenz, sprich die der Strafe, führt mit einer großen Wahrscheinlichkeit dazu, dass Menschen sich moralisch Verhalten. Bestrafung spielt auch eine Rolle bei der Regulierung ethischen Verhaltens innerhalb von Organisationen [12] [13]. Die Androhung von Strafe ist ein mächtiger Mechanismus der sozialen Kontrolle, wobei die Machthabenden Strafe selektiv anwenden, um erwünschte Formen des sozialen Verhaltens aufrechtzuerhalten [14]. Wenn moralische Überschreitungen unbestraft bleiben, kann es sein, dass Menschen, die eine solche Situation durchlebt oder beobachtet haben, eher zu unmoralischem Verhalten tendieren. Die Bestrafung von Übertretungen sendet eine wichtige Botschaft aus, dass ein solches Verhalten nicht toleriert wird, und trägt so dazu bei, seine Häufigkeit zu verringern [15]. Jedoch ist auch die Strafempfindlichkeit von Person zu Person unterschiedlich. Strafempfindlichkeit hängt nämlich mit dem Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus zusammen [16] [17]. Eine größere Sensibilität gegenüber Bestrafung führt dazu, dass neurotische Personen eher dazu motiviert sind, sich moralisch zu verhalten und unmoralisches Verhalten zu vermeiden [18]. Neben negativen Treibern wie die Angst vor Bestrafung oder dem Gefühl der Schuld gibt es auch positive Treiber, die moralisches Handeln begünstigen können. Ein Faktor ist das Gefühl der Selbstlosigkeit (Altruismus). Manche Menschen zeigen altruistische Verhaltensweisen, weil sie dabei ein Gefühl der Zufriedenheit verspüren [19]. Somit bietet das Gefühl der Zufriedenheit einen positiven Nutzen. Studien zeigen beispielsweise, dass bei Menschen, die spenden, Dopamin im Gehirn freigesetzt wird, und es somit einer Art Belohnung gleichkommt [20]. Tendenzen zu prosozialen Handlungen lassen sich auf das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zurückführen, das den positiven Nutzen der Bildung sozialer Bindungen mit anderen widerspiegelt [21], oder auf das damit verbundene Bedürfnis, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten [22]. Interessanterweise sind sowohl das Bedürfnis nach Zugehörigkeit als auch die Neigung, sich um andere zu kümmern, mit dem Persönlichkeitszug der Verträglichkeit verbunden [23]. Somit kann das Bedürfnis nach Zugehörigkeit prosoziales und somit auch moralisches Verhalten begünstigen. Neben dem Bedürfnis der Zugehörigkeit wurde das Bedürfnis nach Leistung, Kompetenz oder Beherrschung ebenfalls als eines der menschlichen Grundbedürfnisse identifiziert, das bei verschiedenen Menschen in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden ist [24] [25]. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Kompetenz kann nicht nur moralisches, sondern auch unmoralisches Verhalten begünstigen. Die Gruppe kann einen gewaltigen Druck auf das Verhalten einer Person ausüben. In solchen Situationen kann es so weit gehen, dass der Druck nach Konformität größer ist als das Bedürfnis moralisch zu handeln. Somit kann es sein, dass Akteure zwar über ein moralisches Bewusstsein verfügen und reflektiert über die Auswirkungen ihres Handelns nachdenken, sie dennoch aufgrund eines übergeordneten Bedürfnisses, nämlich das der Zugehörigkeit, unmoralisch handeln. Ein weiteres Gefühl, das mit den eben genannten Grundbedürfnissen Leistung, Kompetenz und Beherrschung verbunden ist, ist der Stolz. Die erfolgreiche Bewältigung einer herausfordernden Aufgabe führt dazu, das Gefühl der Beherrschung und Leistung zu verstärken, was sich in der Emotion des Stolzes widerspiegelt [26]. Stolz gilt insofern als moralisches Gefühl, als dass er Menschen dazu ermutigt, schwierigen Herausforderungen mit Integrität und ohne Beeinträchtigung der eigenen Ehre oder persönlicher Werte zu begegnen [27]. Hirsch, Jackson und Galinsky (2018) [28] gehen davon aus, dass man extrinsisch auch einen positiven Nutzen aus unmoralischem Verhalten ziehen kann, wie zum Beispiel Anerkennung für die Leistung eines anderen zu bekommen, um einen gewissen Status oder eine Position zu erlangen, es jedoch intrinsisch nicht die gleichen Vorteile bietet wie moralisches Verhalten. Bei der moralischen Entscheidungsfindung spielen auch die Rahmenbedingungen eine Rolle. Unethische Entscheidungen werden nämlich dann getroffen, wenn Faktoren, die den Wert des Ziels erhöhen (z.B. Status oder Geld) höher sind als die mit unethischem Verhalten einhergehenden negativen Folgen wie Schuld oder Bestrafung. Bestehende Forschungen legen nahe, dass motivationsfördernde Faktoren in der Tat unethisches Verhalten verstärken können. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass ein höherer Zeitdruck den Aufgabenfokus, die Motivation und die Produktivität erhöht [29]. Zeitdruck ist jedoch auch ein Risikofaktor bei der ethischen Entscheidungsfindung (Moberg, 2000). Ähnliche Auswirkungen sind in Rivalitätssituationen zu beobachten, die einen intensiven Wettbewerb zwischen verschiedenen Parteien beinhalten. Wettbewerbssituationen können zwar eine größere Motivation und den Wunsch nach Erfolg mobilisieren [30] [31], aber sie verstärken auch unethisches Verhalten wie die Anwendung unethischer Verhandlungstaktiken und die Überbewertung der Leistung [32] [33]. Die Annahme eines Verlustrahmens, bei dem sich die Menschen darauf konzentrieren, einen drohenden Misserfolg zu vermeiden, steigert ebenfalls die Motivation zu guten Leistungen [34] [35], erhöht jedoch den Missbrauch von Insiderinformationen und Täuschung [36]. Schließlich ist das Setzen klarer und schwieriger Ziele eine der wirksamsten Methoden, um die Motivation und Ausdauer bei einer Aufgabe zu erhöhen [37], doch die erhöhte Motivation - genau definierte Leistungsziele zu erreichen - kann auch zu unethischem Verhalten führen [38]. Es wird die Handlung, egal ob moralisch und unmoralisch, durchgeführt, von der erwartet wird, dass sie auf einfachstem Wege zum größten Nutzen führt Gerade ist Veränderungsprozessen kann es von Vorteil sein, die Betroffenen am Prozess zu beteiligen und möglichst offen und transparent die Chancen und Risiken des Prozesses darzulegen und bestenfalls auch zu erläutern, wie mit gewissen Risiken umgegangen wird. So können Ungewissheit und Unsicherheit und somit auch die damit einhergehende Angst minimiert werden. Ebenfalls kann eine Sinnvermittlung unmoralisches Verhalten begrenzen. Besonders förderlich kann allerdings auch die Einbeziehung moralischer Prinzipien in den Zielsetzungsprozess sein. Zum Beispiel kann die Konzentration auf Leistung und Profit dazu führen, dass Menschen sich unmoralisch Verhalten, da der gewonnene Nutzen (z.B. eine hohe Bonuszahlung) größer ist als die damit einhergehenden negativen Konsequenzen (z.B. Schuldgefühle). Unternehmen könnten ethische Parameter, die für den Zielerfolg erforderlich sind, einführen, um unmoralisches Verhalten zu begrenzen. Unternehmen sollten auch bei der Leistungsbeurteilung moralisches Verhalten belohnen. Das führt dazu, dass die Attraktivität für moralisches Verhalten und die Motivation, sich mit den Werten der Organisation auseinanderzusetzen, gesteigert werden.

Wirkungen

Neben bereits genannten Wirkungen von moralischem Verhalten wie Selbstlosigkeit und Stolz sowie die Wirkungen bei unmoralischem Verhalten, Schuld und Bestrafung, ist das Spektrum möglicher Wirkungen von (un)moralischem Verhalten deutlich größer. Werden Menschen ständig mit moralischem Stress konfrontiert, (z.B. ständige Veränderung und damit einhergehende Unsicherheit) kann dies zu Burn-Out, Angstzuständen und einem Mangel an Kreativität führen [39]. Da besonders Menschen mit einer hohen Ausprägung an Neurotizismus eine starke Abneigung gegen Unsicherheit empfinden [40] [41], lässt sich annehmen, dass diese Personen besonders von den zuvor genannten Folgen betroffen sein könnten. Die Wahrscheinlichkeit für unmoralisches Verhalten in Unternehmen kann sich steigern, wenn beobachtet wird, dass dieses unbestraft bleibt. Dies führt dazu, dass Werte und Normen des Unternehmens für die persönliche Bereicherung (Geld, Status) außer Acht gelassen werden (Nutzen höher als Kosten). Achtet ein Unternehmen jedoch auf die Einhaltung ethischer Prinzipien und vermindert Unsicherheiten durch offene Kommunikation, Transparenz und Einbeziehung der Beteiligten, kann dies zu Vertrauen, Zuversicht, Kooperation und Engagement der Mitarbeiter führen [42]. Darüber hinaus kann moralisches Handeln den Erfolg eines Unternehmens bestimmen. Gesellschaftliche Akteure überprüfen das Handeln einer Organisation nämlich daraufhin, ob es mit bestehenden Werten und Normen vereinbar ist [43] [44] [45]. Ist dies nicht der Fall, wird verwerflichen Institutionen die Unterstützung versagt (bspw. Greenwashing). Durch Narrative können jedoch unmoralische Handlungen eines Unternehmens gezielt in den Hintergrund bzw. positive Narrative in den Vordergrund gerückt werden (s. nachfolgend Narrative Theory), wodurch Unternehmen trotz unmoralischer Handlungen die Unterstützung weiter gewährleistet wird (bspw. VW Abgasskandal).

Theorie

Theoretische Erklärungsansätze

Narrative Theory

Grundzüge der Narrative Theory können bis zu Aristoteles’ philosophischen Schriften zurückverfolgt werden. Der Beginn moderner Auseinandersetzungen mit der Narrative Theory wird jedoch dem russischen Formalismus, insbesondere dem Autor Vladimir Propp (1928) zugesprochen. Hierunter fällt unter anderem die Beschäftigung mit moralischer Unsicherheit im philosophischen Forschungsfeld. Moralische Unsicherheit wird als ein von Menschen unangenehm empfundener Zustand verstanden. Dieses Empfinden beruht darauf, dass Menschen das konträre Bedürfnis besitzen, die eigenen Handlungen moralisch bewerten zu wollen. Der Narrative Theory zufolge können Handlungen nur dann moralisch bewertet werden, wenn es eine Norm für eine solche Bewertung gibt. Diese Norm entwickelt sich aus Narrativen. Narrative sind berichtete Erfahrungen menschlichen Tuns. Jene Erfahrungen, die wiederholt erzählt und als Vergleich eigener Handlungen herangezogen werden, bewähren sich als moralischer Vergleichsmaßstab von Handlungen und formen ein Narrativ. Dieses Narrativ beurteilt fortan welche Handlungen moralisch oder unmoralisch einzuordnen sind. Im weiteren Sinne wird der Entwicklung von Narrativen eine Bestimmbarkeit zugeschrieben. Im organisatorischen und politischen Kontext wird Leitfiguren ein Spielraum eingeräumt gewisse Narrative gezielt in den Vordergrund zu heben. Hierdurch kann die Legitimierung eigener Handlungen beeinflusst werden und andersrum können fremde Handlungen als unmoralisch dargestellt werden [46]. Beispielsweise musste das Unternehmen V-Tech aufgrund uneffizient Unternehmensführung (über die Verhältnisse geführt, aufgrund exzessiver irrelevanter Ausgaben) Downsizing betreiben. Die Unternehmensführung initiierte daraufhin das Narrativ ‘If I should fall from grace’ und drückte somit die Notwendigkeit des Downsizing als gerechte Strafe Gottes aus. Gegen dieses Narrativ war es den Mitgliedern des Unternehmens unmöglich die Ursache für das Downsizing moralisch zu bewerten. Allein die Art und Weise wie das Downsizing sich vollzog wurde moralisch unter die Lupe genommen. Somit grenzte das Unternehmen die moralische Aufmerksamkeit von der uneffizienten Unternehmensführung ab und konnte sich einer unmoralischen Betitelung entziehen.

Social Responsibility Theory

Die Social Responsibility Theory ist eine Ethik-Theorie und beschäftigt sich mit der Verantwortung von Individuen gegenüber der Gesellschaft an der sie teilhaben. Die Theorie ist auf den Gesellschaftsvertrag ‘Leviathan’ nach Hobbes (1651) zurückzuführen. Gegenwärtig findet die Social Responsibility Theory in der Psychologie und Gesellschaftspolitik Anwendung. Die Social Responsibility Theory beschäftigt sich mit moralischer Unsicherheit als etwas mit der Gesellschaft Unvereinbaren. Es wird argumentiert, dass das gesellschaftliche Bedürfnis nach moralischer Bewertbarkeit so ausgeprägt ist, dass es praktisch keinen moralisch unsicheren Raum gibt. Vielmehr wird die Existenz eines Moralgefüges beschrieben, welches das soziale Verhalten der Menschen unterhalb gesetzlicher Vorschriften vollständig steuert. Dieses Moralgefüge wird in drei Ebenen unterteilt. Hypernormen bilden die fundamentale und immerwährende moralische Instanz einer Gesellschaft und sind bis heute teilweise noch unbekannt. Zum Beispiel die Überlegung ‘Du sollst nicht töten’ war bis zu einem gewissen Zeitpunkt unbekannt. Mit dessen Identifizierung wurde sie jedoch als essentielles Grundgerüst unserer Gesellschaft als Hypernorm festgehalten. Eine Ebene darüber beeinflussen ‚social contracts‘ die moralische Erwartungshaltung der Menschen durch internalisierte Kultur- und Gesellschaftsmerkmale. Im westlichen Organisationskontext ist hiermit beispielsweise die ordentliche Kündigungsfrist von mindestens drei Monaten sowie das Arbeitslosengeld zu nennen, welche dafür Sorge tragen, dass Arbeitnehmer nicht plötzlich in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Jedoch fallen viele weitere Absicherungen hierunter. Diese können sich räumlich und zeitlich unterschiedlich ausprägen. Die oberste Ebene bilden die ‚psychological contracts‘. Sie beinhalten die individuelle moralische Erwartungshaltung zwischen dem Selbst und der Gesellschaft (beziehungsweise einem anderen Individuum). Beispielsweise ist hier die Erwartungshaltung an einen respektvollen Umgang zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden zu nennen, welche nicht im Arbeitsvertrag schriftlich festgehalten und oftmals auch mündlich nicht angesprochen wird. Insgesamt widmet sich dieses Moralgefüge der Beantwortung der Fragen „Was wird von einem Individuum als Menschsein erwartet?“, „Was wird gesellschaftlich von einem Individuum erwartet?“ und „Was wird von der Beziehung zwischen Individuen einer Gesellschaft erwartet?“ zu beantworten [47]. Das Moralgefüge ermöglicht gewollte Handlungen zu legitimieren oder aber ungewollte Handlungen als unmoralisch zu sanktionieren. So wird durch dieses Gefüge die Missachtung der ordentlichen Kündigungsfrist oder der respektlose Umgang zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden als unmoralisch eingestuft. Umgekehrt wird die Einhaltung dieser Prinzipien als moralisches Handeln bezeichnet.

Moral Utility Theory

Die Moral Utility Theory versucht die Motivation ethischer Entscheidungen anhand der utilitaristischen Weltvorstellung zu erklären und knüpft an ein strikt unterteiltes System von moralischen und unmoralischen Handlungsmöglichkeiten an. Die Hauptaspekte Motivation, Nutzen und Entscheidung finden häufig im ökonomischen und organisatorischen Kontext Anknüpfung. Ausgangspunkt der Theorie ist die Beschäftigung mit der ethischen Entscheidungsfrage „Warum wird unmoralisches Verhalten praktiziert?“. Als Annäherung an diese Frage wird in Anlehnung an die Empirie folgendermaßen argumentiert: Wenn der erwartete Nutzen einer moralischen Überschreitung (unmoralisches Handeln) ein gewisses Ziel zu erreichen die Kosten dieses Handelns übersteigt, führt dies zu der Entscheidung unmoralisch zu handeln [48]. Diese Grundüberlegungen bauen auf die rationalistischen und sentimentalistischen Erklärungsansätze des ethischen Entscheidungsverhaltens auf. Als Vertreter der rationalistischen Schule betont Kant (1785), dass Menschen die Vernunft als Grundlage für ihr moralisches Verhalten nutzen sollten. Ob eine Handlung moralisch ist, wird daran gemessen, inwieweit sie eine Reihe von moralischen Regeln und Maximen aufrechterhält. Dem entgegen steht der rationalistische Ansatz, bei dem Vertreter wie Hume (1739) argumentieren, dass das moralische Urteil weniger ein bewusster Prozess ist, sondern vielmehr auf automatischen emotionalen Reaktionen basiert. Ob eine Handlung also als moralisch oder unmoralisch eingeschätzt wird, ergibt sich aus der internalisierten Moralvorstellung. Darüber hinaus gibt es Ansätze, die versuchen, diese scheinbar konträren Theorien in Einklang zu bringen. Reynolds (2006) [49] beschrieb den Prozess der ethischen Entscheidungsfindung als einen Zwei-Zyklus-Prozess. Dieses Modell basiert auf der Entdeckung zweier neurokognitiver Systeme, die allgemein als System 1 (automatisch abgerufene Moralvorstellungen) und System 2 (rational erörterte Moralvorstellungen) bekannt sind. System 1 bedarf hierbei nach einem bereits bestehenden Schema (Erfahrungen), welches mit der gegenwärtigen Situation übereinstimmt. Sollten keine Erfahrungen für die gegenwärtige Situation zur unterbewusst zur Verfügung stehen, wird das ethische Entscheidungsverhalten logisch durch einen rationalen Argumentationsprozess des System 2 gestützt. In diesem Zuge wird das System 1 durch neue Argumentationsprozesse des System 2 neu strukturiert und aktualisiert.

Erweitert um den Motivator – der Nutzen ein gewisses Ziel am effektivsten zu erreichen – konstruiert die Moral Utility Theory ein Modell, welches die Prozesse ethischer Entscheidungsfindung über eine Kosten-Nutzen-Analyse als sowohl unterbewusst automatisiert, wie auch bewusst rational erklärt (s. Abbildung 1).

Abbildung 1: Kosten-Nutzen-Analyse

Das Ergebnis dieser Berechnung ist der Kosten-Nutzen-Wert ‚Subjective Expected Utility‘ (SEU). Diese Berechnung hängt von den internen Persönlichkeitsmerkmalen und Zielvorstellungen, sowie externen Reizen ab. Moralischer Nutzen wird durch die menschlichen Bedürfnisse nach Stolz und Selbstlosigkeit verstärkt. Als Kosten moralischen Handelns wird letztlich der Grad der Zielerreichungs-Einschränkung verstanden. Als unmoralischer Nutzen hingegen wird die gesteigerte Effektivität der Zielerreichung verstanden. Die Kosten unmoralischen Handelns setzen sich aus Schuldgefühl und Sanktion zusammen. Ein zentrales Problem tritt jedoch auf, sofern moralischem und unmoralischem Handeln ein gleich großer, beziehungsweise, kein eindeutig erkennbarer SEU zugeordnet werden kann (s. Abbildung 2)

Abbildung 2: Moralische Unsicherheit - Grenzen der Kosten-Nutzen-Analyse

Dieser Zustand wird als Zustand moralischer Unsicherheit bezeichnet. In einer solchen Situation wird die Entscheidung über das rationale Denken durch Ausschüttung von Aufmerksamkeitsressourcen (Dopamin) aktiviert [50]. Im Rahmen der rationalen Auseinandersetzung mit der Entscheidungsproblematik werden gesellschaftliche Faktoren (ähnlich der ‚social contracts‘) herangezogen, die als Vergleichsbasis zu der eigenen moralischen Entscheidungsfindung dienen (ähnlich der ‚narrativen Norm‘). Primär werden die Kosten moralischer Überschreitung mithilfe der Kriterien gesellschaftlicher Sanktion rational neu kalibriert. Dieser Prozess vollzieht sich bis ein eindeutiger SEU berechnet wird und eine Handlungsentscheidung initiiert. Die rationale Entscheidungsfindung wird daraufhin internalisiert und ist im Rahmen von zukünftig vergleichbaren Situationen neuronal-affektiv abgerufen. Über diesen Kreislauf neuronal-affektiver und rationaler ethischer Entscheidungsfindung entwickelt sich das subjektive Moralverständnis, welches als Basis der ethischen Entscheidungsverhalten fungiert [51].

Kernaussagen ausgewählter Theorien

Im Vordergrund der genannten Theorien steht die notwendige Eliminierung von moralischer Unsicherheit. Moralische Unsicherheit wird aufgrund des menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisses, die eigenen Handlungen moralischen zu messen und abzuwägen abgelehnt und die Eliminierung unter dem Aspekt der Stabilisierung gesellschaftlicher Teilhabe begründet. Gegenüber der Eliminierung besteht überdies eine hinreichende Funktion der Legitimierung der eigenen Handlung. Durch ein Moralgefüge aus bewährten Narrativen entsteht eine Norm zu der Bewertung moralischen (legitimen) und unmoralischen (illegitimen) Handelns. Hinreichend ist die Legitimierung insofern, als dass der maximale erwartete Nutzen einer Handlung im Rahmen der Moral Utility Theory nicht zwangsläufig durch die Legitimierung erzielt werden kann. Hieraus leitet sich die empirisch und theoretisch zentrale Fragestellung ab „Wie wirkt sich die Eliminierung von moralischer Unsicherheit auf legitime Handlungen aus?“.

Entscheidungsmechanismus: Subjective Expected Utility (SEU)

Der Entscheidungsmechanismus setzt sich aus den Prozessen: (1) Krisendeterminanten, (2) Spannungsfeld, (3) Handlungsanalyse, und (4) Ergebnis zusammen und beschreibt wie ethische Entscheidungen hinsichtlich des optimalen Zielnutzens unter der Einbeziehung von moralischen Überlegungen getroffen werden können (s. Abbildung 3).

Abbildung 3: Entscheidungsmechanismus (SEU) hinsichtlich des maximalen Zielnutzens

Das Streben nach einem maximalen Zielnutzen fungiert hierbei sowohl als Fundament, als auch als Motivator zur Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsmöglichkeiten. Die Determinanten und das Spannungsfeld entstammen von empirischen Beobachtungen, die Handlungsanalyse und das Ergebnis beruhen auf theoretischen Überlegungen der Moral Utility Theory. Krisendeterminanten wie beispielsweise Leistungs-, Erfolgs-, und Zeitdruck stehen oft im Zusammenhang mit neuen und durch viele Unsicherheiten behaftete Situationen. Besonders in neuen Situationen ist aufgrund mangelnder Erfahrungen unsicher, inwiefern sich reagierende Handlungen auf die Zielerreichung auswirken. Diese Unsicherheiten stellen folglich eine Bedrohung der Zielerreichung dar. Ein bekanntes Verständnis ist jedoch, dass ein ausbleibendes Reagieren auf Krisendeterminanten negative Zielerreichungskonsequenzen nach sich zieht. Demnach wird eine Person unter Einfluss von Krisendeterminanten dazu gezwungen sich für eine oder mehrere Handlungen mit ungewissen Auswirkungen zu entscheiden. Ein Teilspektrum möglicher negativer sowie positiver Konsequenzen ist auf ethische Faktoren projizierbar. Da Zusammenhänge zwischen ethischen Faktoren und Zielnutzen zunächst unbekannt sind, gerät die Person in ein Spannungsfeld aus Handlungszwang und moralischer Unsicherheit. An diesem Punkt ermöglicht die ethische Entscheidungsanalyse einen Transfer der unbekannten Situation auf eine messbare Kosten-Nutzen-Analyse moralischen und unmoralischen Handelns mithilfe einer moralischen Norm. Auf dieser Ebene zieht die SEU-Handlungsanalyse vergleichbare Situationen heran, die eine Person nicht zwangsläufig selbst erlebt hat und deren Konsequenzen abzuschätzen sind. In diesem Vorgang werden ethische Konsequenzen einzelner oder mehrerer Handlungen neuronal-affektiv oder durch die Kontexterweiterung auf gesellschaftliche Ebene rational abgewogen und als Handlungsregel internalisiert. Die Nutzen-Kosten-Analyse kann dabei auf das eigene Ziel abgestimmt werden. Somit wird letztlich das ethische Teilspektrum möglicher Konsequenzen zu Gunsten der entscheidenden Person analysiert und verspricht in dieser Hinsicht den maximalen Zielnutzen.

Veranschaulichung

Angenommen die Entwicklung der Umsatzzahlen einer jungen Konditoreiinhaberin verläuft durch die Corona Krise zunehmend negativ, sodass die Inhaberin sich darüber Gedanken machen muss Fixkosten einzusparen. Das Unternehmen sieht sich der Bedrohung ausgesetzt, möglicherweise Insolvenz anmelden zu müssen. Dies verläuft entgehen ihrer primären Ziele die (1) Fortführung ihres Unternehmens und gleichzeitig die (2) Aufrechterhaltung eines fairen Umgangs mit ihren Mitarbeiterinnen zu gewährleisten. Die junge Inhaberin war nie zuvor in einer dergleichen Situation. Zusätzlich ist die Situation durch starke Unsicherheit über moralische Konsequenzen von Reaktionen charakterisiert. Somit gerät die Inhaberin in ein Spannungsfeld aus Handlungszwang und moralischer Unsicherheit. Bekannte von ihr schlagen zwei mögliche Handlungen vor: Downsizing und Nachfinanzierung. Aufgrund der Unsicherheiten und dem fehlenden Verständnis von Zusammenhängen zwischen Handlungen und Zielerreichung möchte die Inhaberin die Entscheidung auf die ethischen Entscheidungsanalyse transferieren. Beispielhafte Abwägung:

Aufgrund wesentlicher Lebensfunktionen, die aus einem Arbeitsverhältnis resultieren, und der Schwierigkeit, während der Krise eine neue Stelle zu bekommen, ist Downsizing als unmoralische Handlung anzusehen:

Unmoralischer Nutzen (individuelle Ebene) = schnelle Senkung der Fixkosten ohne hohes Risiko (korreliert mit Ziel 1) Unmoralische Kosten (individuelle Ebene) = eventuelle Schuldgefühle, Leben zu ruinieren, Mitarbeiterinnen unfair zu behandeln (antikorreliert mit Ziel 2)

Weil die Lebensfunktionen der Arbeitnehmer durch die Nachfinanzierung gewährleistet werden, ist diese Handlungsoption als moralische Handlung anzusehen:

Moralischer Nutzen (individuelle Ebene) = eventuelle Gefühle der Selbstlosigkeit und Stolz die Fairness aufrechtzuerhalten (korreliert mit Ziel 2) Moralische Kosten (individuelle Ebene) = Zentrales Problem der Fixkosten wird nicht direkt behoben (antikorreliert mit Ziel 1)

Da sie nie zuvor in einer vergleichbaren Situation war und keine Handlungsmöglichkeit entsprechend dem Zielnutzen eindeutig vorzuziehen ist, ist es ihr nicht möglich die Entscheidung neuronal-affektiv zu treffen. Daher erweitert die Konditorin den Kontext der Analyse auf die gesellschaftliche Ebene und informiert sich darüber wie andere Unternehmen in dieser Situation reagiert haben, um die gesellschaftliche Sanktion einer moralischen Überschreitung abschätzen zu können. Sie stellt daraufhin fest, dass Downsizing eine bereits moralisch anerkannte Vorgehensweise ist und unter den Umständen, in denen sich die Konditorei aufgrund der Krise befindet, keine unfaire Behandlung der Mitarbeiterinnen darstellt.

Unmoralische Kosten (gesellschaftliche Ebene) = eventuelle Schuldgefühle, Leben zu ruinieren, Mitarbeiterinnen unfair zu behandeln werden durch gesellschaftliche Moralvorstellung kompensiert (korreliert mit Ziel 2)

Die Entscheidung mit dem maximalen subjektiven Zielerreichungsnutzen (SEU) ist in diesem Fall Downsizing.

Anwendung

Bedeutung für Change Phänomene

Im organisatorischen Kontext führen strukturelle Veränderungen interner oder externer Natur zu moralischen Herausforderungen. Aus empirischer Sicht beschwören Krisendeterminanten moralische Unsicherheiten herauf, weil die moralischen Auswirkungen von Reaktionen unbekannt sind. Das fehlende Einschätzungsvermögen von möglichen Nutzen und Kosten der Handlungen stellt Organisationen vor ein moralisches Dilemma, da unmoralisches und moralisches Verhalten nicht im Zusammenhang mit der Effektivität der Zielerreichung beurteilt werden kann, jedoch im gleichen Zuge eine Bedrohung der Zielerreichung darstellt. In Veränderungsprozessen wird demzufolge die Frage nach einem adäquaten Vergleichs- beziehungsweise Entscheidungsmaßstab organisatorischen Handlungen zentralisiert. Die Theorie versucht hier einzugreifen und angemessene Handlungsentscheidungen auf die ethische Entscheidungsfindung zu transferieren. Auf dieser Ebene kann die Unsicherheit durch moralische Normen und Faktoren aufgehoben werden. Zum Beispiel mittels der Eliminierung von moralischer Unsicherheit zwecks des maximalen Zielnutzens.

Fallbeispiel: Uber

Aufgrund der Corona Krise verzeichnete Uber immense Umsatzeinbußen. Recht zeitnah, nachdem die Situation des Unternehmens an die Mitarbeiterinnen durchdrang, kamen Existenzangst sowie Zeit- und Leistungsdruck auf. Ausschlaggebend für diese Determinanten ist, dass die Krise eine Gefährdung von Uber’s primären Ziel – die Existenzsicherung des Unternehmens – darstellt. Die logische Schlussfolgerung des Unternehmens war die Umsatzeinbußen durch Kostensenkung zu kompensieren. Daraufhin initiierte Uber einen Downsizing-Prozess. Uber entschied sich daraufhin erhebliche Entlassungen von Festangestellten, nicht aber von Fahrern, welche nach dem Provisionsprinzip bezahlt werden, vorzunehmen [52] [53]. Da die Auftragslage derzeit gegen null war, musste das Unternehmen keine Provision an die Fahrer zahlen. Die entlassenen Festangestellten reagierten protestierend auf diese Handlung, äußerten ihr Unverständnis und die im Unternehmen verbliebenen Festangestellten erlitten einen Vertrauensverlust, weil sie sich selbst bis zu diesem Moment als inneren und festen Kern des Unternehmens wahrgenommen haben, aber dennoch als erste gehen mussten. Zudem erscheint es den Festangestellten, als würde Uber lediglich den maximalen unternehmerischen Nutzen und nicht die Konsequenzen für das Personal in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen. Kurze Zeit später verkündete der Geschäftsführer Dara Khosrowshahi, dass er im Jahr 2020 auf die Auszahlung seines Basisgehalts von $1 Million verzichten wird [54]. Von den Festangestellten wird dies als solidarische Handlung aufgegriffen und die Proteste wurden weitestgehend eingestellt. Die bedrohende Wirkung von moralischer Unsicherheit auf die Zielerreichung wird in dieser Situation anhand der unternehmerischen sowie personellen Reaktionen deutlich. Der Versuch von Uber die Existenzsicherung durch Downsizing zu stabilisieren traf auf Proteste des Personals. Aufgrund der ausgelösten Unzufriedenheit des Personals ist wiederum die Existenz des Unternehmens gefährdet. Der Zielnutzen der Handlung ist dementsprechend gering. Dieses Bild betont die Wichtigkeit der Berücksichtigung des ethischen Teilspektrums von Kosten und Nutzen gewisser Handlungen sowie die Integration dessen in die Entscheidungsfindung. Inwiefern dies von Vorteil sein kann zeigt die zweite Handlung. Die mit einer positiven moralischen Botschaft verbundene Abwägung auf das Basisgehalt zu verzichten, führte letztlich zu einem besseren Verständnis der entlassenen Festangestellten sowie zu der Wiederherstellung von Vertrauen, insoweit sich jedes einzelne Mitglied des Unternehmens zurücknehmen muss. Unter der Betrachtung des Zielnutzen ist erkennbar, dass diese Handlung weitaus positiver korreliert.

Kritische Würdigung

Die Auseinandersetzung mit moralischer Unsicherheit hat aufgezeigt, dass moralische und unmoralische Handlungen weitreichende Konsequenzen hinsichtlich der Effektivität der Zielerreichung haben können. Moralische Unsicherheiten, ebenso wie Unsicherheiten allgemein wird es immer geben und Organisationen müssen lernen diese, während struktureller Veränderungsprozesse, reflektiv und vollständig in die Handlungsanalyse zu integrieren. Das Fallbeispiel macht überdies darauf aufmerksam, dass es nicht immer die ‘eine‘ richtige Handlung gibt, sondern vielmehr ein strategisches Zusammenspiel verschiedener Handlungen, welches sowohl die Zielerreichung, als auch die Konsequenzen von (un)moralischen Handlungen beeinflussen kann.

Literatur

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Dubal, V.; Whittaker, M. (2020). Uber drivers are being forced to choose between risking Covid-19 or starvation. The Guardian. Link: https://www.theguardian.com/technology/2020/mar/25/uber-lyft-gig-economy-coronavirus (letzter Zugriff: 23.05.2020)

Feiner, L. (2020). Uber to lay off 3,700 employees, about 14% of workforce. cnbc.com. Link: https://www.cnbc.com/2020/05/06/uber-to-lay-off-3700-employees-about-14percent-of-workforce.html (letzter Zugriff: 23.05.2020)

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Hier noch Literatur :)

Einzelnachweise

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